Interview

„Die Zahl der Klima-Verfahren wird weiter steigen“

Interview: Tim Altegör, 03.11.16
…erwartet die australische Juristin Keely Boom. Lernen könne man aus den Klagen gegen Tabak- und Asbestkonzerne – auch was die Taktik von betroffenen Unternehmen angeht.

neue energie: Sie sind Mitautorin einer kürzlich erschienenen Studie zu einem interessanten Trend: In den letzten Jahren werden zunehmend Klagen gegen Regierungen und Unternehmen wegen des Klimawandels eingereicht. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?

Keely Boom: Es gibt eine wachsende Dynamik hin zu Klima-Gerichtsverfahren, die nicht nur auf einer sich neu herausbildenden Klimaschutzgesetzgebung basiert. Die Klimaauswirkungen werden einfach immer größer, die Zahl der Todesopfer und die wirtschaftlichen Schäden nehmen zu. Der peruanische Kläger, der wegen Klimaschäden gegen RWE vorgeht, hat seine Klage während der Pariser Klimaverhandlungen eingereicht. Auch die philippinische Menschenrechtsorganisation CHR hat den Zeitpunkt der Verhandlungen in Paris gewählt, um ihre Absicht bekannt zu geben, Untersuchungen zu Menschenrechtsaspekten des Klimawandels einzuleiten. Ankündigungen von Gerichtsverfahren zum Klimawandel während der internationalen Klimaverhandlungen zeigen, dass Versäumnisse der Staatengemeinschaft, angemessen auf den Klimawandel zu reagieren, unweigerlich zu derartigen Verfahren führen. Ein Auslöser für einige der jüngsten Klima-Gerichtsverfahren war die Studie zu den sogenannten Carbon Majors*, in der die größten Verursacher von industriellem Kohlendioxid identifiziert wurden. Die Carbon Majors sind für zwei Drittel der vom Menschen verursachten CO2-Emissionen in der heutigen Atmosphäre verantwortlich. Diese Konzerne haben unfassbare Gewinne erzielt, während sie die wahren Kosten ihrer Kohle-, Öl- und Gasprodukte an die Armen ausgelagert haben, die mit ihren Häusern, ihrer Möglichkeit zum Anbau von Lebensmitteln und mit ihren Leben bezahlen.

neue energie: Sie zitieren sehr unterschiedliche Klagen, zum Beispiel der Philippinen gegen die Carbon Majors, des peruanischen Bauern gegen RWE, pakistanischer und niederländischer Aktivisten gegen ihre jeweiligen Regierungen, US-amerikanischer Staatsanwälte gegen Ölkonzerne. Gibt es dabei einen gemeinsamen Nenner?

Boom: Klima-Klagen werden derzeit auf der ganzen Welt von Einzelpersonen, Mitgliedern von Gesellschaften und von Regierungen eingereicht. All diese Fälle werden von der Tatsache getrieben, dass die Auswirkungen des Klimawandels, die seit langem vorhergesagt sind, jetzt zunehmend global erlebt werden. Die Verknüpfung extremer Wetterereignisse wie des Taifuns Haiyan auf den Philippinen mit dem Klimawandel kann als starke Motivation für die Betroffenen wirken, als Kläger aufzutreten – ob als Einzelpersonen, Gemeinden oder Regierungen.

neue energie: Geht es bei den Prozessen denn mehr um Zahlungen für bereits entstandene Schäden oder um die Bekämpfung des zukünftigen Klimawandels? Und wie wirkungsvoll können die Verfahren jeweils sein?

Boom: Ein Großteil der aktuellen Klima-Verfahren konzentriert sich auf die Auswirkungen vergangener und gegenwärtiger Treibhausgas-Emissionen. So basiert zum Beispiel die Schadensersatzklage des peruanischen Bauern gegen RWE auf dem bisherigen Beitrag des Konzerns zu den industriellen Kohlendioxid-Emissionen. Es gibt aber auch Fälle, die sich eher auf die Zukunft beziehen. So wie die niederländische Non-Profit-Organisation Urgenda, die mit ihrer Klage die niederländische Regierung dazu zwingen will, wirkliche Maßnahmen zur Verringerung der Emissionen zu ergreifen. Das Ziel ist, den Ausstoß auf ein Niveau zu reduzieren, wie es zur Erfüllung der Regierungspflichten notwendig wäre. Beide Arten von Gerichtsverfahren sind wichtig und werden sich auf Konzerne, Regierungen und die breitere Gesellschaft auswirken.

neue energie: Erwarten Sie bestimmte Hochburgen für künftige Klimaverfahren? Gegenwärtig finden die meisten Prozesse in den USA statt, wo sie auch zuerst aufkamen …

Boom: Wir erwarten, dass die Zahl der Klima-Gerichtsverfahren weiter steigen wird, insbesondere in den Entwicklungsländern. Die Auswirkungen des Klimawandels sind dort am verheerendsten. Selbst geringfügige Veränderungen kosten die Menschen dort zunehmend ihre Häuser, ihre Lebensgrundlagen und ihr Leben. In vielen Ländern existieren Verfassungs- oder Menschenrechte, auf die sich Kläger bei ihrem Vorgehen gegen Konzerne oder Regierungen stützen könnten.

neue energie: Bislang waren eher Prozesse gegen Regierungen erfolgreich. Ist es gegenwärtig schwieriger, Unternehmen wie beispielsweise RWE zur Verantwortung zu ziehen als Politiker? Immerhin fordern Sie Bestimmungen im internationalen Recht, die die persönliche Haftung anerkennen …

Boom: Erfolgreiche Prozesse haben sich gegen Regierungen gerichtet, die die Carbon Majors weiterhin unterstützen und gemeinsame Sache mit ihnen machen – durch Förderung, Subventionierung und Billigung eines Energiesystems, das auf fossilen Brennstoffen basiert. Und das im vollen Bewusstsein der katastrophalen Auswirkungen einer Destabilisierung des Klimas und einer Versauerung der Meere, die das Festhalten an der Verbrennung fossiler Brennstoffe nach sich ziehen würde. In einigen Fällen in den USA haben Kläger Unternehmen wegen des Klimawandels verklagt und sind dabei auf Hindernisse gestoßen. Allerdings haben diese Pionierfälle in den USA eindeutig Klagen in anderen Rechtssystemen inspiriert, etwa gegen RWE in Deutschland. Die Rechtsprechung außerhalb der USA erweist sich möglicherweise als besser geeignet für solche Klagen gegen Konzerne. Zum Beispiel wurde Indien als besonders vielversprechendes Rechtssystem für Klima-Gerichtsverfahren identifiziert, weil sich der oberste Gerichtshof bereit zeigt, das dortige Haftungsrecht so auszulegen, dass erfolgreiche Umweltklagen möglich werden.

neue energie: In Ihrer Studie vergleichen Sie die Klima-Thematik mit den Prozessen gegen die Tabak- und die Asbestindustrie. Was lässt sich aus dem Vergleich lernen?

Boom: Die Tabak-Prozesse waren in den USA äußerst erfolgreich und haben zu einem breiteren öffentlichen Interesse beigetragen. Der Zugang zu Millionen von internen Branchendokumenten hat die Legitimität der Tabakindustrie untergraben. Die Dokumente, die im Zuge von Klimaprozessen zu Tage gefördert werden, könnten entsprechend die Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber fossilen Brennstoffen verändern. Das Rahmenübereinkommen zur Eindämmung des Tabakkonsums räumt der Verfolgung persönlicher Haftung und krimineller Verantwortung eine zentrale Rolle bei der Eindämmung des Tabakkonsums ein. Das internationale Klimaregime hat dagegen bislang die Bedeutung der persönlichen Haftung nicht anerkannt. Fossile Brennstoffe werden im Vertrag von Paris sogar nicht ein einziges Mal erwähnt. Bei den Asbestverfahren hatte das amerikanische Rechtssystem Mühe, den Ansprüchen gerecht zu werden, insbesondere aufgrund der Komplexität des wissenschaftlichen Nachweises und der puren Anzahl der Fälle. Die Klima-Gerichtsverfahren drohen nun, sowohl die Tabak- als auch die Asbestverfahren in den Schatten zu stellen – im Hinblick auf die potenzielle Klägerzahl und die Zeiträume, über die hinweg Klagen eingereicht werden könnten.

neue energie: In Deutschland gibt es eine große Diskussion über die künftigen Kosten der Atommülllagerung. Viele befürchten, dass sich die verantwortlichen Energieunternehmen vollkommen verändern oder verschwinden und die Öffentlichkeit am Ende zahlen muss. Das gleiche Problem trifft wahrscheinlich auch auf die Auswirkungen des Klimawandels zu …

Boom: Der hauptsächlich angeklagte Asbestkonzern in Australien ist aus dem gerichtlichen Zuständigkeitsbereich geflohen, um einer Haftung zu entgehen. Es ist wahrscheinlich, dass auch die Carbon Majors auf die Klima-Verfahren reagieren werden, indem sie ihre Vermögenswerte in andere Gerichtsbarkeiten verlagern oder ihre Unternehmen aufspalten. In Deutschland haben sowohl RWE als auch Eon aufgrund der Risiken für ihr Atom- und vielleicht auch für ihr Kohlegeschäft ihre Kohle- und, im Falle von RWE, auch ihre Atomsparte in einen Konzern abgetrennt und zugleich einen anderen Konzern für die Sparten erneuerbare Energien und Dienstleistung aufgebaut. Die Gesetzgeber werden sich um das Risiko kümmern müssen, dass Beklagte Maßnahmen ergreifen, um der Haftung für ihren Beitrag zum Klimawandel zu entgehen.

neue energie: Sie fordern vor allem Regierungen auf zu handeln, beispielsweise durch die Einführung einer CO2-Abgabe. Wenn dies nicht geschieht – könnten Richter, gestützt durch wissenschaftliche Forschung, künftig die Entscheidungen übernehmen? In den Niederlanden haben die Richter schon ein Mindestmaß beim Klimaschutz definiert, das die Regierung verfolgen muss.

Boom: Die reichen, die Umwelt verschmutzenden Länder haben das Thema der Haftung und Entschädigung für Klimaschäden absichtlich gemieden. Die Regierungen müssen an ihre rechtliche, treuhänderische und verfassungsgemäße Verantwortung gegenüber ihren Bürgern erinnert werden, um wesentliche natürliche Ressourcen zum Nutzen aller jetzigen und künftigen Generationen zu schützen und Unternehmen aus dem Bereich fossile Brennstoffe haftbar zu machen. Wir appellieren an die Regierungen, angemessene Beiträge dazu zu leisten und eine Abgabe für die Erzeuger fossiler Brennstoffe einzuführen. Damit sollte der Internationale Mechanismus zu klimabedingten Verlusten und Schäden teilweise finanziert werden, wobei Einzelpersonen und Gruppen direkt auf die zur Verfügung gestellten Mittel zugreifen könnten. Falls die Regierungen nicht angemessen auf den Klimawandel reagieren, ist zu erwarten, dass Richter zunehmend zugunsten von Bürgern entscheiden, die mit dem Handeln und Nicht-Handeln der Regierungen unzufrieden sind und solche wegweisenden Klima-Klagen einreichen.

* 90 Unternehmen, darunter beispielsweise die US-Ölkonzerne Chevron und Exxon Mobil, der russische Gazprom-Konzern und der indische Kohleförderer Coal India.

Keely Boom
ist Geschäftsführerin des Climate Justice Programme mit Sitz in Helensburgh nahe Sydney. Mitte Juni veröffentlichte die Organisation den Bericht „Climate Justice“, der von der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung gefördert wurde. Darin beleuchten Boom und ihre Co-Autoren weltweite Fälle von Klagen aufgrund des Klimawandels.

 

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