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Interview

„Ein Staat hat die Pflicht, seine Bürger zu schützen“

Interview: Isaac Bah, 02.12.15
…sagt Marjan Minnesma, Co-Gründerin von Urgenda. Die Klimaschutzorganisation hat die niederländische Regierung verklagt, weil sie nicht genug für den Klimaschutz unternimmt. Im Juni hat ein Gericht in Den Haag der Klage stattgegeben und die Politik verpflichtet, den Ausstoß von Treibhausgasen zu senken.

neue energie: Wie sind Sie darauf gekommen, Ihre eigene Regierung wegen ihrer Verantwortung für den Klimawandel zu verklagen?

Marjan Minnesma: Eines unserer Mitglieder ist Anwalt und Vater von kleinen Kindern. Er hat sich mit dem Klimawandel intensiv auseinandergesetzt, speziell mit den IPCC-Berichten. Dabei sind seine Sorgen immer größer geworden und er hat sich gesagt: ‚Das geht alles nicht schnell genug, in was für einer Welt werden meine Kinder aufwachsen?‘. Als Anwalt hat er überlegt, ob es nicht eine andere demokratische Möglichkeit gäbe, da die Politik nicht schnell genug handelt, um katastrophalen Klimawandel abzuwenden. Er hatte die Idee, alle Fakten einem Richter vorzulegen.

neue energie: Mit welcher Strategie sind Sie in den Prozess gegangen?

Minnesma: Unser Climate Case ist eindeutig: 195 Staaten haben gesagt, wir müssen unterhalb eines Temperaturanstiegs von zwei Grad Celsius bleiben und die Industriestaaten sollten bis 2020 ihre CO2-Emissionen und 25 bis 40 Prozent senken. Ein Staat hat die Pflicht, seine Bürger zu schützen, und wir haben versucht zu zeigen: Das passiert gerade nicht. Bei unserem Fall handelt es sich um eine zivilrechtliche Klage. Hier gilt die Prämisse, dass Regierungen Schaden von ihren Bürgern abwenden sollten und dass es rechtswidrig ist, das nicht zu tun.

neue energie: Wie würden Sie Ihre Erwartungen beschreiben und wie hat die Öffentlichkeit auf die Klage reagiert?

Minesma: In den Niederlanden hat niemand daran geglaubt, dass wir den Prozess gewinnen können. Meine Befürchtung war eher, ob die drei Richter in der Lage sein würden, all die Akten zu lesen und anzuerkennen, dass der Klimawandel das vorrangige Problem unseres Jahrhunderts ist. Es gibt eine implizite Sorgfaltspflicht, die im Zusammenhang mit dem Klimawandel nicht gesetzlich geregelt ist. Unsere Regierung hatte eine Reduzierung von 16 Prozent bis 2020 angestrebt. Wir haben zunächst ein Ziel von 40 Prozent gefordert. In der Folge haben wir uns gesagt: Lasst uns wenigstens 25 Prozent anstreben, das ist das Minimal-Level, das die meisten Staaten ausgerufen haben.

neue energie: Von außen betrachtet sind die Niederlande eines der fortschrittlichsten Länder der Welt. Dass man bei der Umsetzung der EU-Klimaziele hinterherhinkt, ist ziemlich überraschend…

Minnesma: Wir sind keine Erneuerbaren-Vorreiter, zumindest nicht mehr. Das wurde bis zu unserem Prozess gar nicht bemerkt. Es ist doch klar, viele Niederländer verdienen ihr Geld mit Gas oder Öl und arbeiten beispielsweise für Shell. Wir sind eine Fossil-Nation und eine gigantische Gas-Drehscheibe.


Einen ausführlichen Länderbericht über die Niederlande lesen Sie in der aktuellen Ausgabe von neue energie, in der auch dieses Interview erschienen ist.


neue energie: Einige Kommentatoren haben Zweifel, ob die Justiz das Recht hat, sich in wissenschaftsbasierte Politikgestaltung der Regierung einzumischen. Was antworten Sie diesen Kritikern?

Minnesma: Obwohl es ein guter Weg ist, Gerichte einzuschalten, wird das nicht genügen. In unserem Fall hat der Richter eingeräumt, dass 40 Prozent zwar möglicherweise notwendig seien, er aber Kraft seines Ermessenspielraums nur das Minimal-Level gewähre. Seine Aufgabe sei es lediglich, die Bürger vor extremen Bedrohungen zu schützen. Aus unserer Sicht reicht das absolut nicht aus.

neue energie: Ihre Regierung hat gegen das Urteil Berufung eingelegt. Haben Sie Sorge, dass das Urteil in zweiter Instanz noch gekippt wird?

Minnesma: Obwohl die Regierung gegen das Urteil Berufung eingelegt hat, hält sie sich an die Entscheidung in erster Instanz und leitet Maßnahmen ein, um das 25-Prozent-Ziel zu erreichen. So gesehen hat das Urteil schon einen großen Effekt. Und wir diskutieren nicht mehr, ob es den Klimawandel überhaupt gibt. Das scheint mittlerweile ein akzeptierter Fakt zu sein, und das ist für sich genommen schon ein großer Schritt.

Zur Person: Marjan Minnesma ist Mitgründerin und Direktorin der niederländischen Klimaschutzorganisation Urgenda. Zuvor arbeitete sie für Greenpeace und leitete das Forschungsinstitut Drift an der Erasmus Universität Rotterdam. Minnesma gilt als wichtigste Nachhaltigkeitsaktivistin der Niederlande.

 

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