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Interview

„Auf die Klimakrise braucht es radikale Antworten“

Foto: privat

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Interview: Astrid Dähn und Jörg-Rainer Zimmermann, 04.10.23
... sagt Rana Adib, Geschäftsführerin des globalen Erneuerbaren-Netzwerks REN21. Sie plädiert dafür, die weltweite Energiewende zugleich mit einer Wirtschafts- und Sozialwende zu verbinden, und kann sich vorstellen, bei zunehmendem Fachkräftemangel vorrübergehend auch das Militär für den Ausbau der Erneuerbaren einzusetzen.

neue energie: Vor Kurzem ist der letzte Teil des diesjährigen „Global Status Report“ von REN21 erschienen. Er blickt mit 2022 auf einen Zeitraum, in dem die von Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg verursachten vielfachen Krisen volle Wirkung entfaltet haben. Es ist oft zu hören, dass dadurch der Erneuerbaren- Ausbau an Tempo gewonnen hat. Teilen Sie diese Sicht?

Adib: Darauf gibt es keine eindeutige Antwort, da die positiven Entwicklungen regional konzentriert sind. In Europa hat es eine Beschleunigung der politischen Maßnahmen und der Bewusstseinsbildung gegeben. In sehr vielen Bereichen wurde den Menschen nochmals klarer, wie wichtig Energiesicherheit ist – und dass erneuerbare Energien mehr Resilienz und zugleich mehr geopolitische Unabhängigkeit ermöglichen. Obendrein sind die Erneuerbaren im Vergleich zu den Fossilen die günstigere Energieform. Im ‚Fit for 55 Repower Europe‘-Programm und den nationalen Programmen der EU-Mitgliedsstaaten zeigt sich das. Nicht anders ist es mit dem Inflation Reduction Act in den USA. Auch in China und Indien unterstützen die Regierungen nicht nur den Erneuerbaren- Ausbau direkt, sondern stellen die Weichen für einen sektorenübergreifenden Erneuerbaren-Einsatz.

ne: Russland exportiert fossile Energien jetzt allerdings verstärkt nach China und Indien. Wie passt das zusammen?

Adib: Ja, wir sehen, dass im asiatischen Raum der Einsatz von Kohle und günstigem russischen Erdgas gestiegen ist. Die Geopolitik hat einen enormen wirtschaftlichen Druck aufgebaut. Zugleich stellt China im Solarbereich 80 Prozent der globalen Lieferkette. China und Indien verfolgen die Strategie, erneuerbare Energien nicht nur in vielen Bereichen einzusetzen – 55 Prozent der globalen Investitionen in erneuerbare Energien fallen in China an –, sondern auch entsprechende Industrien aufzubauen.

ne: Der ökonomische Druck zeigt sich in Deutschland beim Thema Flüssiggas-Terminals...

Adib: Investitionen in neue Erdöl- und Erdgas-Explorationen und die zugehörige Infrastruktur sind ein echtes Problem, da sie widersprüchliche Signale an Investoren, Industrie und Verbraucher senden. Obendrein subventionieren Regierungen weiterhin fossile Energieträger. Weltweit beläuft sich die direkte Subventionierung von fossilen Treibstoffen auf eine Billion US-Dollar. Das ist eine Steigerung von 85 Prozent im Vergleich zu 2021. Und dabei sprechen wir nur über Subventionen, die nicht die externen sozialen und ökologischen Kosten umfassen.

ne: Was könnten Regierungen tun, um gegenzusteuern?

Adib: Die Krise nutzen, um mit der Energiewende eine neue faire, sozialere Wirtschaft und Gesellschaft zu gestalten. Es gab weltweit viele kurzfristig wirkende Maßnahmenpakete. Das Problem ist, dass erneuerbare Energien häufig nicht miteinbezogen wurden. Eigentlich sollte es aber darum gehen, breitangelegte Lösungen zu finden. Wärmepumpen und Dachsolaranlagen etwa sollten überall im Gebäudebestand integriert werden, nicht zuletzt im Sozialbau. Öffentliche Gelder wären so besser eingesetzt, als damit nur die Energiepreise künstlich zu drücken. Im großen Maßstab angewendet, würde das auch verhindern, dass es zu Lock-in-Effekten kommt, die dazu führen, dass neue Infrastrukturen für fossile Energien noch Jahrzehnte bestehen.

ne: Waren die Energiepreisbremsen komplett falsch? Es ging ja auch darum, sozioökonomische Katastrophen zu verhindern.

Adib: Wir erleben eine Klimakrise. Darauf braucht es radikale Antworten. In vielen anderen Krisensituationen wird das Militär mobilisiert. Um zum Beispiel die bestehende Lücke bei der Verfügbarkeit von Fachkräften zu schließen – etwa bei der Installation von Wärmepumpen oder Solaranlagen –, wäre es möglich gewesen, auf solche Kräfte zurückzugreifen. Das klingt radikal. Aber wir brauchen eine Vorgehensweise, die der Dringlichkeit und dem Risiko der Klima- und Wirtschaftskrise entsprechen. Klar gibt es diese Diskussion, was passiert, sollten die Energiepreise zu hoch sein und Firmen abwandern.

ne: Ein altbekanntes Druckmittel der Industrie gegenüber der Politik, nicht nur beim Thema Klimaschutz …

Adib: Richtig. Wichtig ist es heute jedoch, die Energiewende als industriepolitisches und gesellschaftliches Projekt zu gestalten und entsprechende Strategien zu definieren. Bislang wurde nicht besonders viel aus der Vergangenheit gelernt. In Deutschland zum Beispiel haben die Solar- und die Windbranche schon vor Jahren einen Boom erlebt. Es gab aber keine echte industriepolitische Strategie. Das hat im Endeffekt zur derzeitigen Situation stark beigetragen.

ne: Ändert sich jetzt daran etwas?

Adib: Ein Stück weit läuft es global wie früher. Heute geht es aber darum, dass erneuerbare Energien nicht nur fossile Energieträger ersetzen müssen. Vielmehr muss ein echter Industriezweig aufgebaut werden, der rentabel ist und lokal, regional und global zur Wertschöpfung beiträgt. Eigentlich geht es sogar um eine Wirtschafts- und Sozialwende. Denn die gesellschaftliche Akzeptanz ist fundamental wichtig. Sonst kommt es zu Rückschlägen, Not-in-my-Backyard-Effekten, obwohl es in der Bevölkerung breite Unterstützung für die Energiewende gibt. Global betrachtet brauchen wir einen echten Paradigmenwechsel. Das geht weit über die Transformation regionaler Industrien und auch über das Thema Energie hinaus.

ne: Denken Sie, dass wir global in eine neue Phase der Extreme eintreten, in der bestimmte Weltregionen die Systemtransformation stark beschleunigen und andere in der fossilen Welt verharren?

Adib: Ja, ich sehe eine Phase der neuen Extreme. Vor allem geht es mit dem Wandel aber nicht schnell genug. Global sind wir im Stromsektor bei einem Erneuerbaren-Anteil von 30 Prozent. Beim Gesamtenergieverbrauch sind es aber nur zwölf Prozent. Das liegt einfach daran, dass 80 Prozent der Energie jenseits des Stromsektors genutzt werden, in Gebäuden, beim Transport und in der Industrie. Echte Schwierigkeiten sehe ich beim Umsetzungstempo in den Entwicklungs- und Schwellenländern. In solchen Regionen fehlt es am Zugang zu Technologien, Patenten, Fachkräften und nicht zuletzt am Zugang zu Kapital.

ne: Dass die Finanzierung ein großes Problem ist, wurde unlängst auch auf dem Klimagipfel in Nairobi sehr deutlich. Wie ließe sich das ändern?

Adib: Es ist dringend nötig, sowohl in die Energieversorgung als auch in die Klimaanpassung zu investieren. 2022 entfielen auf Afrika und den Nahen und Mittleren Osten nur 1,6 Prozent der globalen Investitionen in erneuerbare Energien. Auch im Zusammenhang mit der COP-Klimakonferenz ist es aktuell ein großes Thema, dass die Industrieländer die versprochene jährliche Klimafinanzierung von 100 Milliarden US-Dollar bisher nicht mobilisiert haben. Öffentliches Geld ist aber unabdingbar, um auch Privatmittel zu mobilisieren. Hierzu bedarf es der Entwicklung neuer Instrumente. Zugleich müssen die Entwicklungsbanken ihr Regelwerk ändern. Dies ist umso wichtiger als in vielen der betroffenen Länder die großen Öl-, Gas- und Kohlekonzerne mit Privatinvestitionen aktiv werden. Es muss also zu einer Umverteilung bei der gesamten wirtschaftlichen Wertschöpfung kommen. Erneuerbare Energien, besonders die Photovoltaik mit ihren niedrigeren Investitionssummen, bieten die Möglichkeit, Energiedemokratien aufzubauen. Im Solarbereich entfallen rund die Hälfte der Installationen auf Großanlagen, die andere Hälfte sind dezentrale Dachinstallationen. Bürger, Kommunen, auch die Industrie können so zu Energieakteuren werden.

ne: Sie sprechen von einem demokratischen, also für die allgemeine Beteiligung offenen Energiesystem. Obwohl der Ausbau der Erneuerbaren voranschreitet, hatten laut Ihrem Report im letzten Jahr aber weniger Menschen Zugang zu Elektrizität als zuvor. Wie kommt das?

Adib: 2022 war tatsächlich das erste Jahr, in dem die Zugangsraten zu Strom runtergegangen sind. Das liegt daran, dass der Ausbau der Energieinfrastruktur in den Entwicklungsländern im Verhältnis zum Bevölkerungswachstum nicht schnell genug verläuft. Insgesamt geht es um fast 700 Millionen Menschen, die keinen Zugang zu Strom haben. 1,2 Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu nachhaltigen Kochlösungen, was natürlich ein Gesundheitsproblem ist. All das wiederum führt zu geopolitischen Dramen, wie es etwa in vielen afrikanischen Ländern zu sehen ist. Die Klimamigration ist in diesen Regionen massiv.

ne: Europa strebt Energiekooperationen mit Afrika an, besonders beim Thema Wasserstoff. Ist das ein Teil der Lösung für Europa und für Afrika?

Adib: Das geopolitische Energieschachspiel verändert sich gerade. Wir müssen ganz klar den Energiebedarf insgesamt reduzieren und auf erneuerbare Energien umstellen. Einige Länder können mit ihren Ressourcen den eigenen Bedarf decken, anderen fehlen dazu die Mittel oder sie haben zu wenig Fläche. Die globale Landkarte von Energieexporteuren und -importeuren ändert sich also. Grüner Wasserstoff und Ammoniak bieten dabei eine Lösung, um erneuerbare Energien zu transportieren und zu handeln.

ne: Unter welchen Rahmenbedingungen?

Adib: Grüner Wasserstoff macht nur in manchen Industriesektoren und in einigen Transportbereichen Sinn. Das möchte ich betonen. Denn es ist klar erkennbar, dass Wasserstoff in vielen Strategien bereits als trojanisches Pferd genutzt wird, um den fossilen Energien zu einer längeren Zukunft zu verhelfen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass für die Produktion von wirklich umweltfreundlichem, grünem Wasserstoff dreimal so viel Ökostrom-Erzeugungskapazitäten nötig sind wie für die direkte Nutzung des Stroms. An erster Stelle müssen daher die Stromwende und die Elektrifizierung der Bereiche Transport und Wärme stehen. Dafür braucht es nicht nur eine Beschleunigung beim Aufbau der entsprechenden Produktionskapazitäten, sondern auch beim Ausbau der Speicherkapazitäten und der Netze, die heute weltweit einen Engpass darstellen.

ne: Im neuen Statusreport stellen Sie fest, dass die CO2-Emissionen global um rund ein Prozent zugenommen haben. Was ist das größte Problem?

Adib: Fast 80 Prozent unseres globalen Energieverbrauchs wird über fossile Energieträger abgedeckt. Nur zehn Prozent der Wärme und nur vier Prozent der Treibstoffe sind erneuerbar erzeugt. Wir brauchen stärkere politische Ambitionen, die Fossilen runterzufahren und die Stromwende in eine Energiewende umzuwandeln. Zwar haben mittlerweile rund 180 Länder Ziele für Ökostrom aufgestellt, aber nur etwa 40 Länder haben Ziele für Erneuerbaren-Wärme.

ne: Woran liegt das?

Adib: Das größte Hindernis sind aktuell die schon erwähnten widersprüchlichen Signale, was fossile Energieträger angeht. Die von Regierungen ausgeschütteten Subventionen führen dazu, dass erneuerbare Energien teilweise nicht wettbewerbsfähig sind, obwohl sie es eigentlich wären. Öffentliche Gelder werden an dieser Stelle völlig falsch eingesetzt und die Chance verpasst, einen sozialen Mehrwert zu schaffen.

Dies ist eine gekürzte Fassung des Interviews. Der vollständige Text ist in Ausgabe 10/2023 von neue energie erschienen


 

Rana Adib

Ist Geschäftsführerin des internationalen Erneuerbaren-Netzwerks REN21, zu dem sich weltweit Vertreter aus Wissenschaft, Politik, Nichtregierungsorganisationen und Wirtschaft zusammengeschlossen haben. Die Initiative mit Sitz in Paris gibt jährlich einen „Status-Report“ zum aktuellen Stand der globalen Energiewende heraus.

 

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