Klimaschutz-Industrie

„Diese Dynamik wird bleiben“

Fotos: privat

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Mary Hellmich (Adelphi), Sarah Jackson (E3G)

Interview: Tim Altegör, 04.04.23
Die Expertinnen für transatlantische Klimapolitik Mary Hellmich und Sarah Jackson über die Motivation hinter dem Inflation Reduction Act der USA, Europas Antwort und die möglichen Folgen für den Rest der Welt.

neue energie: In letzter Zeit sorgt der Inflation Reduction Act, kurz IRA, in Europa für viel Gesprächsstoff. Er enthält im Prinzip Milliarden von Dollar an Subventionen für Technologien wie Elektroautos und Solaranlagen, verlangt aber, dass diese zumindest teilweise in den USA produziert werden. Wie wichtig ist dieses Gesetz für die US-Klimapolitik?

Mary Hellmich: Das ist eine große Sache. Es handelt sich um die bisher bedeutendste US-Klimagesetzgebung und bringt sie in Schlagdistanz zur Erfüllung ihrer Ziele für das Paris-Abkommen. Wenn noch ein paar andere Klimamaßnahmen dazukommen, sieht es jetzt so aus, als könnten die USA diese Ziele erreichen, und dabei wäre das Gesetz beinahe überhaupt nicht verabschiedet worden. Wir können also gar nicht hoch genug einschätzen, wie wichtig es für die US-Klimapolitik ist, und damit für die internationale Klimapolitik.

Sarah Jackson: Auf internationaler Ebene verschafft es den USA endlich Glaubwürdigkeit, dass sie ihre Ziele einhalten. Sie haben es 2009 mit einem CO2-Preis versucht, was nicht funktioniert hat. Die Demokraten haben aus dieser Erfahrung eine wichtige Lektion gelernt, weshalb der IRA diesen eher industriepolitischen Ansatz verfolgt. Er wird die Klimaschutz-Wirtschaft in den USA definitiv verändern, und man kann gar nicht genug betonen, was für eine große Sache das Gesetz war und wie kurz davor die Demokraten standen, es nicht durchzubringen. Das geschah wirklich über Nacht und war für viele Leute in Washington eine Überraschung.

ne: Könnten Sie etwas genauer erklären, warum sich die USA für diese Kombination aus Klima- und Industriepolitik entschieden haben, anstelle anderer Wege wie Regulierung oder CO2-Preisen?

Jackson: Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Der erste ist die knappe Mehrheit im US-Kongress. Die Demokraten mussten den sogenannten Reconciliation-Prozess nutzen, der eine einfache Mehrheit erfordert, aber nur Gesetze zu Steuern oder Ausgaben zulässt. Und angesichts der Erfahrungen mit dem Emissionshandel, der eben vor rund zehn Jahren im Senat gescheitert ist, haben sich die Demokraten für Ausgaben entschieden. Das Gesetz zielt auch stark darauf ab, Abhängigkeiten von China zu verringern. Eine stärkere Position gegenüber China ist ein parteiübergreifendes Ziel in den USA, bei Demokraten wie Republikanern. Der IRA war zwar nicht parteiübergreifend, aber wie er zu China ausgerichtet ist, hat geholfen, gemäßigtere Demokraten an Bord zu holen. Um Klimapolitik in den USA durchzusetzen ist außerdem die Unterstützung von Gewerkschaften und Arbeitern nötig. Das ist überall im IRA zu sehen, mit Inhalten wie den Local-Content-Vorgaben und Ausbildungsprogrammen. Darin steckt die Idee, die amerikanische Industrie zu erneuern, Klimaschutz mit Arbeitsplätzen zu verknüpfen und Gemeinden, die durch die Globalisierung ausgehöhlt wurden, wieder zum Leben zu erwecken.

Hellmich: Bei der Frage der Regulierung unterscheidet sich die Klimapolitik der USA und der Europäischen Union deutlich. Wenn der US-Präsident per Verordnung irgendeine Klimamaßnahme erlässt, kann sie der nächste Präsident nach einem Machtwechsel im Weißen Haus einfach rückgängig machen. Beim Reconciliation-Prozess wird das Ergebnis ins Steuerrecht geschrieben. Es ist schwierig, das rückgängig zu machen, man bräuchte den Präsidenten und beide Kongress-Kammern. Außerdem mögen es die Leute, Geld zu bekommen. Die Bundesstaaten, die am meisten von den Zahlungen des IRA profitieren werden, haben republikanische Gouverneure. Und wenn das Geld erst einmal fließt, wäre es sehr unpopulär, es den Menschen dort wieder wegzunehmen. Das war also eine clevere Konstruktion der Demokraten. Bei jeder Klimagesetzgebung, die stattdessen auf Regulierung setzt, könnten die Republikaner die Filibuster-Regelung nutzen. Dann bräuchte man eine Mehrheit von 60 der 100 Stimmen im Senat, und die haben die Demokraten nicht. Um überhaupt alle eigenen Kongressmitglieder für eine einfache Mehrheit an Bord zu bekommen, mussten sie viele verschiedene Interessen beachten, weshalb der IRA nicht nur ein Gesetz zur Klimapolitik ist, sondern auch zur Arbeits- und Gesundheitspolitik. Sie mussten das alles vermischen, sonst wäre es nicht durchgekommen.

ne: Der IRA wurde im August 2022 verabschiedet, die ersten Reaktionen in Europa waren eher positiv. Monate später folgte dann der Aufschrei, weil man befürchtet, bei Klimatechnologien gegenüber den USA nicht mehr wettbewerbsfähig zu sein. Warum ist die EU von der ganzen Sache scheinbar überrascht worden?

Jackson: Das ist eine sehr gute Frage, vor allem, weil Local-Content-Anforderungen auch schon im vorherigen Gesetzesentwurf namens Build Back Better enthalten waren, der im Grunde der Vorläufer des Inflation Reduction Act war. Aber die EU war von dem US-Gesetz sehr überrascht, und die USA waren sehr überrascht von der vehementen Reaktion der EU. Es scheint, dass es bei der Ausarbeitung des Entwurfs nicht genug diplomatischen Austausch zwischen beiden gab. Seit dem Eklat hat es mit der EU-US-Taskforce zur IRA definitiv Fortschritte gegeben. EU-Handelskommissar Valdis Dombrovskis ist jetzt im ständigen Austausch mit der US-Handelsbeauftragten Catherine Tai.

Hellmich: Es wurde auch sehr verschlossen gehalten. Niemand hat gedacht, dass der IRA verabschiedet würde, bis es so weit war. Aber natürlich gibt es trotzdem Einflussmöglichkeiten für andere Länder. Vor allem über Deutschland haben wir gehört, dass es nicht so viel Einfluss genommen hat, wie man erwartet hätte. Ich denke, der Schock kann teilweise auch durch andere Faktoren erklärt werden, wie die hohen Energiepreise in Europa. Der IRA hat einige bereits bestehende Bruchlinien in der europäischen Klimapolitik offengelegt. Die Europäer haben erkannt, dass diese Probleme durch das verlockende Angebot an Unternehmen auf der anderen Seite des Atlantiks verschärft werden.

ne: Vergangenen Sommer war Europa sehr mit dem Krieg in der Ukraine und der Energiekrise beschäftigt, also vielleicht auch ein Fall von schlechtem Timing...

Jackson: Auf jeden Fall. Das ist ein interessanter Punkt, denn viele in der EU haben sich gefragt, warum die USA das gerade jetzt tun, wo Europa bereits unter einer Energiekrise leidet. Aber der Standpunkt der USA war, dass es nur ein kleines Zeitfenster für die Verabschiedung des Gesetzes gibt, dass es vor der Sommerpause und vor den Zwischenwahlen 2022 beschlossen sein muss. Bei den Zwischenwahlen haben die Demokraten das Repräsentantenhaus verloren. Es war also die letzte Chance und ist einfach ein unglückliches Timing mit all den anderen Krisen.

ne: Sie haben die zahlreichen Gespräche schon erwähnt, die sich jetzt darum drehen einen Weg zu finden, europäische Unternehmen irgendwie in die Bestimmungen des IRA einzubeziehen, obwohl es kein Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU gibt. Können die Europäer am Ende beruhigt sein?

Hellmich: Anzeichen dafür gab es bereits nach dem Besuch des französischen Präsidenten Macron im Weißen Haus im Dezember. Ein unmittelbares Ergebnis war, dass zumindest für Nutzfahrzeuge aus der EU die Local-Content-Regeln nicht gelten werden, was vielen europäischen Automobilherstellern nutzt, die Autos in den USA leasen. Es sieht auch so aus, als könnte die EU in irgendeiner Weise grundsätzlich in den IRA einbezogen werden, die ursprünglich nicht vorgesehen war. Aber selbst wenn die EU zu 100 Prozent vom IRA profitieren könnte, wird sie ihren eigenen Green-Deal-Industrieplan jetzt vorantreiben. Es sieht so aus, als ob die transatlantischen Handelsspannungen zumindest deutlich abgemildert sind. Aber diese Dynamik wird bleiben.

Jackson: Ich würde hinzufügen, dass die Frage ist, wie die US-Abgeordneten auf das Vorgehen der Biden-Regierung reagieren werden. Die Republikaner können leicht Anhörungen ansetzen und sagen, die Regierung gehe zu weit, wenn sie versucht, EU-Produzenten einzubeziehen. Es gibt Berichte, dass sogar demokratische Senatoren das sagen. Aus dem Gesetzestext geht eindeutig hervor, dass der IRA amerikanischen Produzenten und den Ländern zugutekommen soll, mit denen die USA ein Freihandelsabkommen haben, was die EU nicht einschließt. Die Republikaner könnten das als politischen Keil nutzen, um eine Spaltung zwischen der EU und den USA und zwischen den Demokraten im Kongress und der Regierung zu befördern. Sie könnten auch klagen, die Sache könnte also vor Gericht ausgetragen werden.

ne: Um zur EU-Seite zu wechseln, was halten Sie von der Reaktion der EU-Kommission und ihren Plänen, ebenfalls die Produktionskapazitäten für Klimaschutz-Technologien auszubauen?

Hellmich: Was wir von Unternehmen in Europa über den IRA gehört haben, ist: Das ist so einfach und schnörkellos. Die Leute wissen genau, was sie tun müssen, um an dieses Geld zu kommen. In der EU ist es schwierig, Zugriff auf diese Art von Finanzierung zu erhalten. In Unternehmen gibt es Menschen, die sich allein damit beschäftigen. Ein wichtiger Pfeiler des Green Deal Industrial Plan ist nun die Vereinfachung von Prozessen, aber wir müssen sehen, wie das umgesetzt wird.

Jackson: Es ist eine riesige Chance, aber es gibt noch Spielraum für die Ausgestaltung des Green Deal Industrial Plan und auch des Critical Raw Materials Act. Das Geld muss sehr gezielt für die Dekarbonisierung eingesetzt werden. Wenn die EU die Regeln für staatliche Beihilfen lockert, muss sichergestellt sein, dass nicht nur Frankreich und Deutschland davon profitieren, also die Länder mit den größten Mitteln. Auch Unternehmen aus kleineren, weniger wohlhabenden Ländern müssen die Möglichkeit haben, von der Transformation zu profitieren. Wir würden gerne sehen, dass eine Lockerung der Beihilfe-Vorschriften mit neuen EU-Geldern verbunden wird, die in Ländern wie Deutschland sehr umstritten sind. Die Vorschläge könnten auch bei der industriellen Dekarbonisierung etwa im Stahlsektor und in der chemischen Industrie noch weiter gehen. Es ist also ein guter Anfang, aber die EU kann bei diesen Gesetzen definitiv noch nachbessern.

ne: Es brauchte irgendwie den IRA, damit die EU sich ernsthaft damit befasst...

Jackson: Ja, er hat die EU dazu gebracht, ihre Hausaufgaben zu machen und zu schauen, welche Möglichkeiten sie Unternehmen bietet. Aber seitdem ging alles sehr schnell, wenn man mal darüber nachdenkt. Die EU ist normalerweise nicht dafür bekannt, so schnell zu handeln, wie sie es jetzt getan hat.

Hellmich: Es ist auch nicht das erste Mal, dass die Klimapolitik auf beiden Seiten des Atlantiks sich gegenseitig beeinflusst. Der europäische Green Deal basiert auf dem Green New Deal in den USA, zumindest dem Namen nach.

ne: Der Inhalt ist teilweise allerdings sehr unterschiedlich. Europa versucht beispielsweise, die internationalen Handelsregeln im Rahmen der WTO einzuhalten, im IRA ist das nicht der Fall. Die USA gelten gemeinhin als führende Verfechter des Freihandels, aber es scheint, als hätte die EU diese Rolle übernommen. Würden Sie dem zustimmen?

Jackson: Auf jeden Fall. Ich denke, die EU hält die WTO-Fahne hoch und das gesamte multilaterale Handelsregelwerk zusammen. In den USA haben die Demokraten eine wichtige Lektion von Trump gelernt. Sie versuchen, Fehler wie in der Vergangenheit zu vermeiden, die sie als die Partei erscheinen ließen, die die Arbeitnehmer nicht unterstützt. Die Ablehnung der WTO ist also überparteilich.

Hellmich: Da liegt ein großer Unterschied zwischen beiden Seiten. Die EU hat ihren CO2-Grenzausgleich, bei dem unklar ist, ob er aus Sicht der WTO im Einklang mit dem internationalen Handelsrecht steht. Aber die EU hat ausdrücklich erklärt, dass er WTO-kompatibel sein soll. Das ist also zumindest etwas, worauf sie wert legt.

ne: Kann das internationale Handelssystem denn mit den Klimaschutz-Erfordernissen in Einklang gebracht werden?

Hellmich: Wir würden uns auf jeden Fall eine grüne Überarbeitung des Handelssystems wünschen. Handelskonflikte im Zusammenhang mit Klimapolitik werden bald zur Regel werden, wenn Länder zunehmend ehrgeizige nationale Klimaschutzmaßnahmen ergreifen. Sie müssen sich vor wirtschaftlichen Verwerfungen und der Verlagerung von CO2-Emissionen ins Ausland schützen, was nicht nur für diese Länder schlecht ist, sondern auch auf internationaler Ebene. Wenn Unternehmen einfach abwandern und woanders produzieren, führt das nicht zu einer Senkung der globalen Treibhausgasemissionen, und darauf kommt es an.

ne: Erwarten Sie, dass der internationale Klimaschutz von alldem beschleunigt wird oder eher verlangsamt, weil der wirtschaftliche Wettbewerb trotz der diplomatischen Bemühungen steigt?

Hellmich: Es gibt definitiv die Möglichkeit, dass eine starke nationale Industriepolitik in der EU und den USA Klimaschutzmaßnahmen auf der ganzen Welt beschleunigt. Es könnte Partnerschaften mit Ländern geben, die nicht über die gleichen Finanzierungsmöglichkeiten verfügen, um ihre eigene Industrie aufzubauen. Andere Länder könnten einbezogen werden, um sichere Lieferketten ohne China zu ermöglichen, was sowohl für die EU als auch für die USA eine hohe Priorität hat. Gleichzeitig müsste sichergestellt sein, dass diese Ressourcen-reichen Länder ebenfalls Zugang zu emissionsarmen Technologien und Verfahren bekommen. Das könnte die Welt wirklich auf einen schnellen Weg zu sehr ehrgeizigen Klimaschutzmaßnahmen und deutlichen Emissionsreduzierungen bringen.

Jackson: Hoffentlich werden die EU und die USA den Ansatz verfolgen, lokale Wertschöpfungsketten und Arbeitsplätze in diesen Ländern zu schaffen, sie wirklich als Partner zu betrachten und nicht bloß kritische Mineralien abzubauen und sie dann abzutransportieren. Es können sich nicht nur die reichsten Länder, die in der Lage sind, hohe Subventionen zu zahlen, auf den Weg dieser Transformation machen. Es muss auch ein Angebot an andere Länder geben.

ne: Dennoch scheint die Gefahr zu bestehen, dass ärmere Länder außen vor bleiben, wenn die großen Volkswirtschaften zunehmend um die Ansiedlung von Klimaschutz-Industrie konkurrieren. Wie können wir sicherstellen, dass das nicht passiert?

Jackson: Das ist die Millionen-Dollar-Frage. Ich glaube alle, die sich mit internationaler Klimadiplomatie beschäftigen, fragen sich, welche Auswirkungen das auf die ärmeren Länder hat. Als China die Solarenergie stark subventioniert hat, ist der Preis gefallen. Man kann also argumentieren, dass die Preise weltweit sinken werden, wenn die USA und die EU mehr Geld für saubere Technologien ausgeben. Aber wir müssen wirklich vermeiden, dass Länder von der Transformation ausgeschlossen werden, und deshalb sind Partnerschaften so wichtig. Man darf dabei nicht vergessen, dass der Markt für saubere Energie wachsen wird, es wird also viele Möglichkeiten für Länder geben zu profitieren. Es hängt jetzt wirklich davon ab, wie die EU und die USA das diplomatisch handhaben, wie sie auf andere Länder zugehen.

Das Interview stammt aus der Ausgabe 04/2023 von neue energie. Es wurde auf Englisch geführt und übersetzt. Die Originalfassung gibt es hier.


Mary Hellmich

ist Analystin bei Adelphi, einem in Deutschland ansässigen Thinktank mit den Schwerpunkten Klima, Umwelt und Entwicklung. Sie arbeitet zu internationaler Klimapolitik und ist Co-Leiterin des Projektbüros der Transatlantic Climate Bridge bei Adelphi.

Sarah Jackson

ist Politikberaterin für transatlantische Diplomatie beim internationalen Klima-Thinktank E3G. Dieser ist ebenfalls Mitglied der Transatlantic Climate Bridge, einer von der deutschen Bundesregierung unterstützten Initiative.

 

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