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Europäischer Energiemarkt

Freie Fahrt für Kohlestrom?

Tim Altegör, 08.06.15
Auf Initiative Deutschlands verabreden zwölf europäische Staaten eine engere Kooperation bei der grenzüberscheitenden Stromversorgung, Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel feiert die Erklärung als Meilenstein. Eine Studie zeigt derweil, dass der freie Strommarkt auch kontraproduktiv sein kann, wenn Deutschland seine Kohle-Emissionen nicht senkt. Doch gerade hier schwächelt Gabriel.

Beim Treffen der EU-Energieminister in Luxemburg haben die Vertreter von zwölf europäischen Staaten vereinbart, künftig enger bei der Stromversorgung zusammenzuarbeiten. Neben den EU-Staaten Belgien, Niederlande, Luxemburg, Frankreich, Deutschland, Österreich, Schweden, Dänemark, Polen und Tschechien unterzeichneten auch die Schweiz und Norwegen ein entsprechendes Dokument. Das Bundeswirtschaftsministerium (BMWI) bezeichnet die Gruppe als die „zwölf elektrischen Nachbarn“.

Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel sprach im Anschluss von einem „Meilenstein in der europäischen Energiepolitik“. In den letzten Jahren habe es im Ausland wachsende Sorgen gegeben, dass Deutschland bei der Energiewende nur auf den nationalen Markt schaue, ohne Konsequenzen für Nachbarländer zu beachten. Das sei nun vorbei.

Das Papier geht auf eine Initiative von Gabriels Ministerium zurück. Im Kern zielt es auf einen regional integrierten, möglichst unbeschränkten Energiemarkt ab. So erklärten die Unterzeichner unter anderem, grenzüberschreitenden Stromhandel auch bei Knappheit nicht zu beschränken und flexible Strompreise ohne Obergrenzen zuzulassen. Um fluktuierende erneuerbare Energien stärker in das bestehende System einzubinden,  wollen die zwölf Regierungen verschiedene Flexibilitätsoptionen wie die Steuerung des Energieverbrauchs nutzen.

Kapazitätsmarkt weiter in der Diskussion

Das geht weitestgehend in dieselbe Richtung, wie die bisherigen Überlegungen im BMWI zum hiesigen „Strommarkt 2.0“. Für Juni hat Gabriels Haus dazu ein Weißbuch mit konkreten Vorschlägen angekündigt. Eine vorab veröffentlichte Leitstudie der Beratungsfirma Connect Energy Economics kommt zu dem Schluss, dass der bestehende Energiehandel über die Strombörse der beste Anknüpfungspunkt sei, um auch künftig eine sichere Versorgung zu gewährleisten. Allerdings müsse er stärker an die Erfordernisse von Wind- und Solarstrom angepasst werden, etwa durch besagte Flexibilisierung.

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Einen zusätzlichen Kapazitätsmarkt, bei dem die Betreiber fossiler Kraftwerke für die Bereitstellung einer Notfallleistung bezahlt würden, hält die Studie dagegen für verzichtbar. Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) begrüßte die Zwölfer-Erklärung grundsätzlich, mahnte allerdings zugleich eine Abstimmung des neuen deutschen Strommarkt-Designs mit den anderen Staaten an – und verwies auf den kürzlich einführten Kapazitätsmarkt in Frankreich. Der BDEW vertritt vor allem die traditionelle Energiewirtschaft, die sich von dem Mechanismus eine finanzielle Absicherung ihres fossilen Kraftwerksparks erhofft.

Studie: Deutschland braucht zusätzliches Klimaschutzinstrument

Einig sind sich alle Beteiligten, dass ein grenzüberschreitender Strommarkt Vorteile bringt. Dass er jedoch auch klimaschädliche Effekte verstärken kann, zeigt eine andere aktuelle Studie. Die Denkfabrik Agora Energiewende hat darin die Folgen der anhaltend großen Kohlestrom-Produktion in Deutschland analysiert. Ergebnis: Weil trotz immer mehr erneuerbaren Energien die CO2-intensiven Kohlekraftwerke unvermindert weiterlaufen, werden vergleichsweise klimafreundliche, aber teurere Gaskraftwerke aus dem Markt gedrängt – in Deutschland, durch den bereits bestehenden internationalen Handel aber auch im angrenzenden Ausland. Besonders die Niederlande seien vom dreckigen deutschen Stromexport betroffen, der sich im Zeitraum von 2010 bis 2014 auf 36 Terawattstunden verdoppelt hat.

Laut Agora dürfte Deutschland vor allem deshalb die eigenen Klimaschutzziele nach derzeitigem Stand verfehlen. Die Preise im europäischen Emissionshandel sind derart niedrig, dass sie die Kohleverstromung nicht begrenzen können. Sie sollen zwar durch eine Reform ab 2020 steigen, das  komme jedoch zu spät. Die Autoren fordern daher ein zusätzliches „nationales Klimaschutzinstrument“.

Daran allerdings droht Sigmar Gabriel gerade zu scheitern: Ein Klimabeitrag für ältere Kohlekraftwerke wurde von den betroffenen Energiekonzernen und Gewerkschaftsvertretern sowie des Wirtschaftsflügels des Koalitionspartners CDU so massiv angegriffen, dass eine substanzielle Einschränkung der Kohle-Emissionen derzeit in weiter Ferne scheint.  Unter diesen Bedingungen könnte der von Gabriel forcierte europäische Energiemarkt der Energiewende eher schaden als nutzen.

 

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