Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe 10/2023 von neue energie. Er ist für den Wissenschaftspreis 2024 des Fraunhofer UMSICHT in der Kategorie Journalismus nominiert.
Das Versprechen ist groß: Ob als Treibstoff, Brennmaterial zum Heizen oder als Arbeitsmedium für die Industrie – Wasserstoff gilt als wirkmächtige Vielzweckwaffe, um Öl, Kohle oder Erdgas nicht nur in Wirtschaftsprozessen, sondern auch im Alltagsleben weitgehend überflüssig zu machen und damit die Klimabilanzen der Menschheit erheblich aufzupolieren. Statt Schadstoffen wie Kohlendioxid würde aus unseren Schornsteinen und Auspuffen dann überwiegend harmloser Wasserdampf quillen, so die Idee.
Jüngste Forschungsergebnisse kratzen das schöne Bild von einer sauberen neuen Wasserstoff-Welt jedoch ein wenig an. In den vergangenen zwei Jahren sind eine Reihe wissenschaftlicher Arbeiten erschienen, die belegen, dass Wasserstoff in der Atmosphäre größere Spuren hinterlässt als nur ein paar Wassertröpfchen. Das Gas kann vielmehr ebenfalls zur globalen Erwärmung beitragen. Es sei mittlerweile „klar, dass Wasserstoff-Emissionen das Klima beeinflussen“ und diese Tatsache „weitere Aufmerksamkeit von Wissenschaft, Industrie und Politik“ verlange, heißt es etwa in einer Studie der Klimaspezialisten Ilissa Ocko und Steven Hamburg von der US-Naturschutzorganisation Environmental Defense Fund (EDF).
Ein zweitägiger Experten-Workshop zu potenziellen Umwelteffekten von Wasserstoff, den neben mehreren H2-Verbänden auch das amerikanische Energieministerium und die Europäische Kommission mitfinanziert haben, empfahl Mitte letzten Jahres in seinem Abschlussreport dringend, mehr Forschung zu Wasserstoff-Leckagen zu betreiben, um die Verluste des Gases in die Lufthülle „zu minimieren, zu verhindern und zu überwachen“.
„Wasserstoff ist per se kein Klimagas“, sagt Reinhard Zellner, Professor an die Universität Duisburg-Essen. Der Chemiker war lange Zeit Mitglied der Enquete-Kommission des Bundestags zum Schutz der Atmosphäre. „Wasserstoff hat aber eine indirekte Wirkung auf das Klima.“ Das heißt: Anders als beispielsweise CO2-Partikel sind Wasserstoff-Moleküle selbst nicht in der Lage, wärmende Infrarotstrahlung aufzunehmen oder abzugeben, weshalb sie keine unmittelbaren Temperaturveränderungen hervorrufen. Gelangen sie in die Lufthülle, gehen sie dort aber chemische Verbindungen ein, insbesondere mit sogenannten Hydroxyl-Radikalen.
Diese OH-Partikel gelten als Waschmittel der Atmosphäre: Weil sie extrem reaktionsfreudig sind, helfen sie Verunreinigungen im Luftgemisch abzubauen. So zum Beispiel auch das Treibhausgas Methan, das die Erderwärmung noch vielfach stärker vorantreibt als Kohlendioxid. Wenn der Wasserstoff die OH-Radikale nun abfängt, stehen sie nicht mehr für die Methan-Beseitigung zur Verfügung, die Lebensdauer des Gases verlängert sich und seine Konzentration in der Atmosphäre nimmt zu.
Nach Zellners Berechnungen könnte der Methan-Gehalt bei gleichbleibendem Ausstoß des Gases so um etwa 20 Prozent wachsen, sein Beitrag zur Klimaerwärmung daraufhin von heute rund 30 auf 36 Prozent steigen. „Das ist das Hauptproblem, das Wasserstoff in der Atmosphäre auslöst“, sagt Zellner.
Zusätzliche Stellknöpfe fürs Klima
Es ist allerdings nicht das einzige. Über die Verbindung mit OH-Radikalen hinaus können die Wasserstoff-Teilchen noch weitere Reaktionsketten anstoßen, in deren Folge sich beispielsweise die Konzentration von Ozon – gleichfalls ein Treibhausgas – in den unteren Luftschichten erhöht. Zudem ist auch die vermehrte Produktion von Wasserdampf, die von den H2-Molekülen ausgeht, nicht vollkommen unbedenklich. Im erdnahen Teil der Lufthülle, der Troposphäre, regnen diese Wasser-Partikel rasch wieder ab. Weiter oben, in der Stratosphäre, bleiben sie indes länger erhalten, unterstützen dort die Entstehung von Zirruswolken und tragen über verschiedene komplizierte Strahlungsmechanismen letztlich ebenfalls zur Erwärmung der Luftmassen bei.
Anfangs habe die Forschung die Effekte von Wasserstoff auf die Stratosphäre weitgehend außer Acht gelassen, erzählt Jakob Wachsmuth vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung Isi in Karlsruhe. Gemeinsam mit Kollegen hat der Mathematiker unlängst in einer Metastudie für das Umweltbundesamt die Fachliteratur zur Treibhauswirkung von Wasserstoff umfassend ausgewertet. „Erst die neueren Veröffentlichungen haben auch diese Phänomene mitberücksichtigt“, sagt Wachsmuth. Das habe die Bewertung des Sachverhalts noch einmal „merklich verändert“.
Die meisten aktuellen Untersuchungen kommen zu ähnlichen Schlüssen. Danach machen die Abläufe in der Stratosphäre rund ein Drittel des „Treibhauspotenzials“ von Wasserstoff aus; der Begriff ist ein Maß dafür, wie viel eine Substanz verglichen mit Kohlendioxid zur Erderwärmung beiträgt. Mit den jüngsten Ergebnissen musste das Treibhausgaspotenzial von Wasserstoff somit insgesamt nach oben korrigiert werden.
Alles in allem beläuft es sich den Analysen zufolge jetzt auf einen Betrag von etwa elf, wenn man einen Zeitraum von 100 Jahren betrachtet; das Gas hat über diese Spanne hinweg also eine elfmal größere Klimawirkung als CO2. Verkürzt man die Beobachtungszeit auf 20 Jahre, erhöht sich das Treibhausgaspotenzial noch weiter, auf rund 33. Der Grund: Mit zirka 2,3 und neun Jahren haben sowohl Wasserstoff als auch Methan relativ kurze durchschnittliche Verweildauern in der Atmosphäre, weshalb die lebensverlängernde Wirkung des Wasserstoffs auf Methan in den ersten zwei Jahrzehnten am meisten zu Buche schlägt.
„Das sind schon Werte, die man nicht einfach beiseite wischen kann“, kommentiert Wachsmuth die Resultate. Dennoch ist Wasserstoff bislang nicht offiziell als Klimagas eingestuft, die Substanz findet daher weder im Pariser Abkommen noch in den entsprechenden Listen des Weltklimarats Erwähnung. Das könnte zum einen daran liegen, dass die Problematik gerade erst intensiver in den Fokus der Atmosphärenforschung gerückt ist; bis vor Kurzem lagen deshalb kaum politisch oder juristisch verwertbare Daten zum Thema vor.
Die mangelnde Beachtung könnte aber auch darauf zurückzuführen sein, dass der Klima-Fußabdruck von Wasserstoff im Vergleich zu anderen Treibhausgasen vorläufig noch sehr klein ist. Zwar hat die H2-Konzentration in der Atmosphäre in den vergangenen hundert Jahren kontinuierlich zugenommen, überwiegend verursacht durch den Ausstoß von Wasserstoff beim Verfeuern von fossilen Brennstoffen und Biomasse. Sie ist allerdings immer noch gering, derzeit liegt sie bei 0,58 Teilchen pro Million Luftpartikeln (ppm), rund tausendmal unter den Messwerten für CO2.
Große Spannweite bei Bedarfsprognosen
Mit dem Aufbau einer weltweiten Wasserstoff-Wirtschaft könnte sich das jedoch ändern. Auf dem Weg zur Klimaneutralität haben viele Länder rund um den Globus in letzter Zeit angekündigt, ihre H2-Produktionskapazitäten möglichst schnell hochzufahren, darunter auch Deutschland und die Staatengemeinschaft der EU. Wie hoch der Bedarf an in Form von Wasserstoff bereitgestellter Energie in Zukunft tatsächlich sein wird, ist mit erheblichen Unsicherheiten verbunden, die Spannweite der Prognosen dementsprechend groß. Nach Vorhersagen von Forschern des Fraunhofer-Instituts Isi könnte sich die Nachfrage in Deutschland bis Mitte des Jahrtausends auf 250 bis 800 Terawattstunden summieren, in ganz Europa auf 800 bis 2200 Terawattstunden.
Für die globale Lage existieren lediglich grobe Überschlagsrechnungen. In einer Studie für das britische Energieministerium zu den „atmosphärischen Implikationen einer vermehrten Wasserstoff- Nutzung“ von April letzten Jahres setzen Wissenschaftler von der Universität Cambridge dafür beispielsweise rund 28 400 Terawattstunden an. Das Team um Nicola Warwick nimmt weiter an, dass die Verluste an die Atmosphäre, die bei Erzeugung, Transport und Verwendung des Wasserstoffs auftreten, insgesamt zwischen ein bis zehn Prozent betragen werden.
„Umgerechnet in Masseeinheiten bedeuten diese Schätzwerte, dass für 2050 weltweit von einem Bedarf von ungefähr 1000 Megatonnen Wasserstoff pro Jahr auszugehen ist“, sagt Reinhard Zellner. Das ergäbe dann Leckagemengen von 10 bis 100 Megatonnen jährlich. Wie der Essener Professor für einen Übersichtsartikel im Fachmagazin „Nachrichten aus der Chemie“ ermittelt hat, dürfte das die Mischungsverhältnisse in der Atmosphäre nachweisbar verschieben: „Die Konzentration von Wasserstoff würde sich etwa verdoppeln, auf 1,2 Teilchen pro Million Partikel“, so Zellners Bilanz.
Sein Kollege Falko Ueckerdt vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (Pik) hat ähnliche Überlegungen angestellt. Geht man in einem künftigen Wasserstoff-Kreislauf von der Quelle bis zum Verbrauch von drei Prozent Verlusten durch Lecks aus, würde das laut Ueckerdts Hochrechnungen die Klimaschutzwirkung des Gases spürbar verringern: bezogen auf einen Zeitraum von 100 Jahren um ungefähr zehn Prozent, bezogen auf 20 Jahre sogar um bis zu ein Viertel, je nach zugehörigem Treibhausgaspotenzial.
Bei intensivem Einsatz in einer weltumspannenden Wasserstoff-Ökonomie und Leckageraten von zehn Prozent könnte das Gas zu einem Temperaturanstieg von „mindestens 0,1 Grad Celsius“ führen, gibt auch die EDF-Forscherin Ilissa Ocko in ihrer Publikation zu bedenken. „Wenn Deutschland wirklich bis 2045 auf netto-null Emissionen kommen will, müssen wir diese Einwände ernst nehmen und uns Gedanken machen, wie wir ihnen in den Klimabilanzen Rechnung tragen können“, resümiert Ueckerdt.
Dazu braucht es allerdings noch eine Menge Forschungsarbeit. Denn über plausible, aber vereinfachte Abschätzungen hinaus sind die ökologischen Konsequenzen einer kommenden Wasserstoff-Ära auf vielen Gebieten noch mit großen Unwägbarkeiten behaftet. Das fängt schon bei der Atmosphärenchemie an. Die gängigen Modellrechnungen berücksichtigen bislang längst nicht alle Stellschrauben, die für die Wasserstoff-getriggerte Klimamaschinerie in der Lufthülle entscheidend sind.
Leckgefahr unklar
Weitgehend unbeachtet bleiben in den Analysen bisher beispielsweise potenzielle Veränderungen der Methan-Konzentration: Gelingt es, auf die Nutzung fossiler Brennstoffe großenteils zu verzichten und die Landwirtschaft umweltschonend umzustellen, könnte das den menschenverursachten Methan-Ausstoß drastisch senken. Das wiederum würde dann auch den indirekten Klimaeffekt von Wasserstoff minimieren. Umgekehrt könnten plötzliche Methan-Ausbrüche, ausgelöst etwa durch das klimawandelbedingte Auftauen von Permafrostböden, die Wasserstoff-Wirkung ankurbeln.
Mindestens ebenso schwer kalkulierbar wie die Abläufe im Gasmantel der Erde sind die Verlustraten in den Transport- und Verteilsystemen einer weitverzweigten Wasserstoff-Landschaft. Dazu gebe es bislang kein flächendeckendes Monitoring, sagt Kai Holtappels, Leiter des Fachbereichs Sicherheit von Energieträgern der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung. Grundsätzlich gilt seiner Einschätzung nach: Je breiter angelegt die Wasserstoff-Infrastruktur, desto höher die Anzahl an neuralgischen Punkten wie etwa Übergabestellen oder Ventilen und desto fehleranfälliger das System.
Als besonders lecksicher stufen Ingenieure Pipelines ein, weil sich die Röhren relativ gut abdichten und überwachen lassen. Doch auch für diese Leitungswege mangelt es an verlässlichen Informationen zu den voraussichtlichen H2-Emissionsraten. Vorliegende Daten stammen zumeist von der Erdgasindustrie, beziehen sich folglich auf Methan-Lecks. Nach Angaben von Branchenverbänden in den USA gehen in ihren Verteilnetzen etwa 2,3 Prozent des Gases verloren.
Da Wasserstoff-Moleküle wesentlich kleiner sind als Methan und daher selbst durch Rohrwände hindurch diffundieren können, dürfte der Schwund in H2-Leitungen tendenziell höher liegen. „Aber das lässt sich durch den Einsatz passender Materialien, zum Beispiel spezieller Stahlsorten, recht gut in den Griff kriegen“, sagt Holtappels. Laut einem Bericht über die „flüchtigen H2-Emissionen in einer künftigen Wasserstoff-Wirtschaft“, den das Beratungsunternehmen Frazer-Nash im Frühjahr 2022 für die britische Regierung erstellt hat, wäre es möglich, die Leckageraten in Pipelines langfristig auf unter 0,5 Prozent zu drücken.
Kritischer sieht die Analyse den Transport von flüssigem Wasserstoff, zum Beispiel in Schiffen. Dort seien Austrittsquoten von bis zu 13 Prozent zu erwarten. „Wenn man den Energieträger dann noch vom Schiff auf Lkws verlädt und später an Tankstellen weiterverteilt – jeweils verbunden mit einem gewissen Schlupf – , sind Gesamtverluste von zehn bis 20 Prozent absehbar“, sagt Pik-Forscher Falko Ueckerdt. Sollte sich das nicht ändern, habe der Wechsel zu Wasserstoff in diesem Fall „keinen Sinn mehr für den Klimaschutz“.
Um allzu großen Ausdünstungen in die Atmosphäre entgegenzuwirken, empfehlen Experten wie Ueckerdt und Holtappels neben weiteren Materialverbesserungen zum Abdichten der Anlagen und einer feinmaschigen Überwachung, etwa mittels KI-gesteuerter Sensornetze, vor allem eines: eine konsequente Priorisierung bei der Wahl der Einsatzfelder von Wasserstoff. „Wir sollten die Ressource nur dort nutzen, wo es keine anderen Lösungen gibt, um den Treibhausgas-Ausstoß zu verringern“, sagt Ueckerdt.
Zielgenauigkeit beim Einsatz gefragt
Denn sauberer, mit Ökostrom erzeugter grüner Wasserstoff sei rar und teuer in der Herstellung. Dieses kostbare Gut beliebig in der Breite zu verschwenden, wäre aus seiner Sicht so, „als würde man Champagner unters Duschwasser mischen“. „Das lohnt sich schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht, und mit Blick auf die Klimawirkung noch einmal weniger“, sagt Ueckerdt. Der Physiker ist auf die Entwicklung sektorenübergreifender Konzepte zur Transformation des Energiesystems spezialisiert und war im Rahmen der Ariadne-Projekte des Bundesforschungsministeriums an verschiedenen Entwürfen zu praxistauglichen Wasserstoff-Strategien beteiligt.
Den Dossiers zufolge sollte der grüne Wasserstoff zunächst vor allem in bestimmten Industriezweigen Verwendung finden, beispielsweise um Koks bei der Stahlherstellung zu ersetzen und die Prozesse so zu dekarbonisieren. An zweiter Stelle könnte der Einsatz als Speicher im Stromnetz stehen, um das schwankende Angebot von Windenergie und Solarkraft abzupuffern. „Diese Vorhaben lassen sich überwiegend pipelinegestützt umsetzen, mit vergleichsweise kurzen Wegstrecken, was die Leckwahrscheinlichkeit reduziert“, sagt Ueckerdt.
Beim Heizen und im Straßenverkehr hält er dagegen die direkte Nutzung von Strom in Wärmepumpen oder Batteriefahrzeugen für wesentlich effizienter als Wasserstoff – und damit ökonomisch wie ökologisch für nachhaltiger. Deshalb sollte die Politik seiner Meinung nach H2-Projekte „nicht mit der Gießkanne subventionieren, sondern lieber gezielt in die klimatechnisch vielversprechendsten Ansätze“ investieren.
Mittelfristig müssten auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen so angepasst werden, dass der Klimaeinfluss von Wasserstoff Berücksichtigung findet. Das könnte über den CO2-Preis erfolgen, schlägt Ueckerdt vor. „Der Wasserstoff-Ausstoß würde dann in die Bepreisung der Treibhausgas-Emissionen miteinbezogen, was automatisch Anreize zur Vermeidung von Lecks schaffen würde.“ Möglich wäre es zudem, Grenzwerte für Wasserstoff-Emissionen festzulegen und die Vorschriften zur Dichtigkeit der relevanten Systemkomponenten zu überarbeiten.
Da H2-Moleküle im Verbund mit Sauerstoff heftige Explosionen auslösen können, wenn sie unkontrolliert in die Luft entweichen, gibt es für viele Wasserstoff-Anwendungen bereits strenge Sicherheitsvorschriften. „Aber gerade wird mit der ‚Normungroadmap‘ ein Fahrplan zur Anpassung des Regelwerks erstellt, darin könnten der Klimaeffekt und Leckagebegrenzungen aufgegriffen werden“, sagt Jakob Wachsmuth vom Isi. Sein Institut sei in das Verfahren involviert, was am Ende dabei herauskomme, lasse sich allerdings noch nicht genau abschätzen. „Das ist alles Work in Progress.“
„Panikmache absolut unangebracht“
Generell stehe die Wasserstoff-Wirtschaft noch ganz am Anfang, die Hochlaufphase werde erst im Laufe des Jahrzehnts richtig in Schwung kommen, betont Andrea Lübcke von der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften Acatech. Sie verantwortet dort den „Wasserstoff-Kompass“, eine Informationsplattform zu Fragen rund um das Gas, die Mitte September gestartet wurde und Grundlage für innovationspolitische Entscheidungen der Bundesregierung sein soll.
Auch das Treibhausgaspotenzial ist auf dem Wissens-Hub ein Thema. Lübcke findet es wichtig, den Effekt von vornherein mitzubedenken. „Es ist wesentlich einfacher und kostengünstiger, Vorkehrungen gegen zu hohe Emissionen zu treffen, wenn die Infrastruktur für Wasserstoff im Aufbau begriffen ist, als die Anlagen später aufwendig umzurüsten“, argumentiert die Physikerin.
Sie ist optimistisch, dass die Industrie dabei mitzieht. „Schließlich ist es auch im Sinne der Unternehmen, wenn möglichst wenig von dem teuren Gas verloren geht.“ In zahlreichen Diskussionen mit Firmenvertretern habe sie den Eindruck gewonnen, dass „manche Akteure zwar von den neuen Erkenntnissen zur Klimawirkung überrascht waren“, die Branche aber tendenziell bereit sei, sich den Fakten zu stellen und die Schwierigkeiten anzugehen.
Denn trotz aller Vorbehalte – Wasserstoff bleibt ein entscheidendes Hilfsmittel beim Übergang zu einem umweltgerechten Energiesystem. Darin sind sich nahezu alle Fachleute einig. Der potenzielle Klimaeinfluss des Gases sei mit Sicherheit kein „Showstopper“ und „Panikmache absolut unangebracht“, sagt Lübcke. „Wir müssen das Thema nur offen ansprechen, damit keine Vorurteile aufkommen, die der Wasserstoff-Wirtschaft am Ende ihren Rückhalt in der Gesellschaft rauben.“ Für Lübcke ist klar: „Nach allem, was wir heute wissen, überwiegen die Vorteile von Wasserstoff im Kampf gegen den Klimawandel die Nachteile weiterhin deutlich.“
„Ohne die H2-Technologien werden wir die Energiewende nicht schaffen“, ist auch Reinhard Zellner überzeugt. Der Chemiker verweist noch auf einen zusätzlichen Pluspunkt, den der Umstieg auf Wasserstoff mit sich bringt, jenseits aller Bemühungen um Treibhausgasneutralität: Ersetzt das Gas zunehmend fossile Energieträger, verringert sich auch die Menge an gesundheitsgefährdenden Beiprodukten wie Stickoxiden oder Kohlenmonoxid, die beim Verfeuern der konventionellen Brennstoffe zusammen mit Kohlendioxid freigesetzt werden.
„Die Luft wird somit deutlich sauberer“, sagt der Atmosphärenspezialist. Diesen medizinischen Bonus gebe es „quasi gratis dazu“. Zellner vergleicht Wasserstoff daher gerne mit einem Medikament. So ein Mittel verursache gewöhnlich immer auch unerwünschte Nebenwirkungen. „Aber das müssen wir beim Wirkstoff Wasserstoff in Kauf nehmen, weil er insgesamt heilsam ist für das Klima“ – zumindest, wenn man ihn richtig dosiert.