Die Solarraupe steht nicht in Brehms Tierleben, sondern in Marburg. Auf dem Areal der Vitos Kliniken nutzt die zweigeschossige Kita einen Geländesprung, um Kindern auf beiden Ebenen einen barrierefreien Zugang zum Park zu ermöglichen. Ins Auge springen allerdings eher die intelligent in die Architektur integrierten Photovoltaikmodule (Building Integrated Photovoltaics, BIPV). 365 Quadratmeter monokristalline Solarmodule sind als Faltwerk auf dem Dach und auf der Südwestfassade verbaut. Ihre tiefschwarz glänzenden Flächen symbolisieren den neuen Umgang von Architekten und Bauherren mit Solaranlagen: Funktion und Design bedingen sich gegenseitig.
Das Potenzial von Solarmodulen an Fassaden ist gewaltig. Das Leibnitz-Institut für ökologische Raumplanung hat ein theoretisches Flächenpotenzial von 12 000 Quadratkilometern berechnet – doppelt so viel, wie als Dachanlagen möglich wäre. Die Montage ist kaum teurer, der Ertrag ähnlich hoch. Die PV-Module erzeugen nicht nur Strom, sondern kühlen auch die Wände der Gebäude – gut für die Energiebilanz. Trotzdem waren Solarfassaden lange ein Nischenmarkt. Bis jetzt.
Das liegt an den monokristallinen Solarmodulen, die derzeit in der Architektenszene hoch im Kurs stehen. Deren tiefblaue bis schwarze, glänzende Oberfläche verleiht Gebäuden ein edles, hochwertiges Aussehen. Dazu kommt der Wirkungsgrad: Er liegt bei 18 bis 23 Prozent, bei polykristallinen Solarmodulen sind es im Durchschnitt fünf Prozent weniger. Zudem lassen sich die blauen, polykristallinen Module nur auf bestehende Baukörper montieren – on top, im wörtlichen Sinn. Da sich die Preise für Photovoltaikanlagen in den vergangenen Jahren ungefähr halbiert haben, sind auch die teureren monokristallinen Solarmodule längst erschwinglich. Folgerichtig liegt ihr Marktanteil inzwischen bei rund 30 Prozent.
Wie die Möglichkeiten der monokristallinen Module genutzt werden, lässt sich zum Beispiel bei der Matchbox in Eschborn erkennen, errichtet nach dem Entwurf vom Architektenbüro Dietz Joppien Hammerschmidt (DJH) Architekten. Das Gebäude bietet auf zehn Geschossen eine flexible Flächennutzung. Seine Besonderheit ist die allseitige Photovoltaikfassade aus 1500 Quadratmetern monokristallinen Modulen, die den Energiebedarf für den Eigenbedarf decken. Überschüssige Energie wird in das öffentliche Netz eingespeist. Da ausschließlich Standard-PV-Module zum Einsatz kommen, ist der Aufwand bei einem nötigen Austausch gering.
Solar.shell und Solar.con
Weil das Bessere der Feind des Guten ist, will die Leipziger Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) den Markt mit gleich zwei Entwicklungen erobern. In Leipzig wird an kleinteiligen PV-Modulen zur flexiblen Integration in Gebäudefassaden geforscht: Solar.shell und Solar.con.
Bei Solar.shell arbeitete das Team um Frank Hülsmeier mit dem Fassadenbauer Aluform zusammen. Die Aluminium-Verbundplatte lässt sich durch Frästechnik zu dreidimensionalen Objekten verarbeiten. Das ermöglicht die Herstellung von Kassetten mit PV-Modulen, die sich flexibel in Fassaden integrieren lassen. Ein Algorithmus sorgt dafür, dass sie optimal zur Sonne gedreht sind. Das steigert den Energieertrag pro Quadratmeter PV-Fläche um bis zu 55 Prozent gegenüber planar installierten Modulen. Den „Proof of Concept“ liefert das Firmengebäude von Aluform, an dem die Kassetten auf der Süd- und Westseite verbaut wurden.
Für Solar.con setzte das Architekturinstitut der HTWK eine Idee um, die den Einsatz von Solarenergie beim Bauen mit Beton in den Fokus rückt. Die Betonfassade auf dem Gelände des Projektpartners Hering Bau besteht aus Waben mit integrierter PV, ebenfalls per Algorithmus perfekt zur Sonne ausgerichtet. Die Cubes bestehen zu 30 Prozent aus Recyclingbeton; dieser Anteil soll in den folgenden Projektschritten erhöht werden. Was die Forschenden in der Entwicklungsphase besonders umgetrieben hat: Beton hat eine Haltbarkeit von 80 bis 100 Jahren, bei PV-Modulen sind es aktuell 20 bis 30 Jahre. Deshalb wurden die Waben mit Clips versehen, die einen unkomplizierten, sicheren und schnellen Austausch der Solarmodule ermöglichen.
Sie folgen der Sonne
Ähnliche Ideen werden in der Schweiz verfolgt. Die adaptiven Solaranlagen der ETH Zürich passen – gestützt durch künstliche Intelligenz (KI) – den Neigungswinkel und die Himmelsrichtung der Module an die aktuellen Bedingungen an. Referenzprojekt ist das House of Natural Resources auf dem ETH-Campus. Dort wurden 50 bewegliche und einzeln ansteuerbare Dünnschicht-Solarzellen auf ein bewegliches Netz gespannt. Dieser Typ von Modulen gewinnt immer mehr an Bedeutung, weil er weitaus leichter ist als jene aus Mono- oder Polykristallinen. Dank KI folgen die Module des ETH selbstständig dem Sonnenlicht. Messungen ergeben, dass die beweglichen Solareinheiten an einem klaren Sommertag rund 50 Prozent mehr Energie erzeugen als eine statische Solarfassade.
Der Weg ist frei, raus aus den Laboren und ran an die Fassaden. An Ideen mangelt es nicht: Solarjalousien mit Lamellen, in denen PV-Module verbaut sind. Solarzäune mit dem Sichtschutz als Zusatznutzen. Mobile Module für den Einsatz auf Booten. Und nicht zuletzt Solarbäume für den Vorgarten. Deren Bonus: Im Herbst gibt es kein Laub zu harken.