Die Energiewende macht die Stromerzeugung nicht nur sauberer, sondern auch sichtbarer. Statt weniger großer Kraftwerke, finden sich über das ganze Land eine Menge Windräder, Bioenergie- und Photovoltaikanlagen verteilt. Immer wieder kommt es deshalb zu Konflikten mit den Menschen vor Ort – wie bei Infrastrukturprojekten durchaus üblich.
Vorab zu zeigen, wie ein Erneuerbaren-Kraftwerk das Erscheinungsbild am jeweiligen Standort verändert, kann dabei helfen, Bedenken auszuräumen. Bislang wurden dafür häufig Fotomontagen genutzt. Die haben jedoch den Nachteil, dass sie nur eine zweidimensionale Perspektive auf die geplanten Anlagen ermöglichen. Zudem können Windkraftgegner die optische Wirkung des Windparks „schlimmer“ aussehen lassen, als das in der Realität der Fall wäre. Andererseits ist es aber auch möglich, alles etwas hübscher aussehen zu lassen. Umso wichtiger ist eine möglichst realistische Darstellung.
Digitale Verfahren wie die Augmented-Reality-Technik (erweiterte Realität) können dabei helfen. Das Prinzip: Reale Umgebungen werden mit virtuellen Elementen kombiniert. Beim Blick durch das Kamerabild von Tablet oder Smartphone auf die Landschaft werden die Windenergieanlagen genau an der vorgesehenen Stelle dargestellt, egal aus welcher Richtung oder von welcher Position man darauf schaut. Die eingeblendeten computergenerierten Inhalte interagieren dabei mit der realen Welt. Befindet sich ein Baum, ein Gebäude oder ein anderes optisches Hindernis im Weg, wird die Anlage dadurch verdeckt.
Um die Weiterentwicklung einer solchen App geht es im Projekt AR4Wind (Augmented Reality für Wind). Startschuss war am 1. Juli letzten Jahres, die Laufzeit beträgt zwei Jahre. Das Vorhaben wird mit insgesamt knapp 600 000 Euro vom Bundeswirtschaftsministerium gefördert. Daran beteiligt sind die Fachagentur Windenergie an Land (FA Wind), die Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin, das Landschaftsplanungsbüro Landplan OS sowie die Projektgesellschaft für Klima, Nachhaltigkeit und Kommunikation EPC.
3D-Modelle von Windrädern
In dem Projekt soll untersucht werden, „inwiefern faktenbasierte Debatten um Windenergieprojekte vor Ort durch qualifizierte Visualisierungen von Windenergieanlagen mittels Handy oder Tablet unterstützt werden können“, heißt es auf der Internetseite. Windräder würden bei informellen Bürgerbeteiligungsverfahren als 3D-Modelle „erfahrbar gemacht“.
„Die zugrundeliegende Basis-App wurde zusammen mit der Hochschule Osnabrück entwickelt und wird nun im aktuellen Forschungsprojekt – in Zusammenarbeit mit der HTW Berlin – technisch optimiert“, sagt Stefan Kauling, Geschäftsführer von Landplan OS. „Wir haben schnell bemerkt, dass GPS für unsere Ziele zu ungenau und der Kompass von Tablet oder Handy nur wenig brauchbar ist.“ In der Praxis habe sich herausgestellt, dass schon geringe Abweichungen von zwei Metern nach links oder rechts einen großen Unterschied für die perspektivisch korrekte Darstellung der Anlagen machen.
Deshalb habe man einen eigenen Ansatz entwickelt, um die Betrachter korrekt zu positionieren. „Dafür mussten wir unter anderem die Geländedaten in das Programm implementieren, um die genaue Position bestimmen zu können. Wo immer möglich werden die Open-Data-Geländedaten der Landesvermessungen aus den Bundesländern genutzt, wenn diese jedoch nicht verfügbar sind, nutzen wir Daten aus dem Erdbeobachtungsprogramm Copernicus der EU.“ In Bezug auf freie Geodaten gibt es in einigen Bundesländern wie beispielsweise Bayern und Baden-Württemberg noch Luft nach oben, sagt Kauling. „Wenn keine genauen Geländedaten vorliegen, dafür aber exakte Höhendaten aus der Planung, können wir mit diesen die Geländehöhe am Fuß der Anlagen manuell exakt einstellen.“
Die Verwendung der App sei flächendeckend in Deutschland und Europa möglich, auch offline. Dann müsse man jedoch im Vorfeld das Geländemodell, auf dem die Windräder stehen sollen, herunterladen. „Wir können die Anlagen vorab oder vor Ort beliebig positionieren und in die gewünschte Richtung drehen sowie deren Anzahl ändern. Zudem kann auch die Lichtstimmung angepasst werden.“ Man habe alle gängigen Anlagentypen der bekannten Hersteller als originalgetreue 3D-Modelle nachgebaut.
Verschiedene Windpark- und Anlagen-Varianten in Echtzeit
„Wenn der Anlagentyp und die genauen Standortkoordinaten bekannt sind, ist das Projekt an einem PC mit der zugehörigen Software in fünf Minuten angelegt“, sagt Kauling. Nachdem es auf Tablet oder Handy übertragen wurde, lasse sich die Sichtbarkeit vor Ort begutachten. Man kann zu den betroffenen Anwohnerinnen und Anwohnern gehen und ihnen zeigen, wie der Windpark aussieht, auch aus ihren Wohnhäusern heraus.
Damit sich verschiedene Windpark- und Anlagen-Varianten auf unterschiedlichen Flächen in Echtzeit durchspielen lassen, sollte die Einrichtung der App möglichst schnell gehen, sagt Kauling. In den ersten vier Praxistests, die von April bis Juni dieses Jahres an verschiedenen Standorten stattfanden, habe sich gezeigt, dass es noch Verbesserungsbedarf bei der Bedienfreundlichkeit der App gebe. Darum soll es in der nächsten Testphase gehen, die für das Frühjahr 2023 geplant ist. Es sei allerdings auch danach kein Tool, das ein Laie unvorbereitet nutzen kann. „Es braucht eine kundige Einweisung“, sagt Kauling.
Mit dem Projekt soll aber nicht nur die technische Machbarkeit und Praxistauglichkeit bewiesen, sondern auch wissenschaftlich untersucht werden, welchen Einfluss und welche Bedeutung die App für Bürgerbeteiligungsverfahren hat. Dafür ist Bettina Bönisch von der FA Wind zuständig. „Ich schaue mir an, wie das Tool wirkt. Hat es überhaupt das Potenzial, lang- oder mittelfristig die Bürgerbeteiligung zu verbessern? Sollten künftig alle Infoveranstaltungen damit flankiert werden? Und welche Wirkung erzielt man bei Laien, die sich die komplexe Materie oft nicht vorstellen können?“
Visualisierungen von Windparks seien häufig Gegenstand von Streitigkeiten und würden von Gegnern, aber auch Befürwortern instrumentalisiert, sagt Bönisch. Die FA Wind hat deshalb bereits im letzten Jahr einen Visualisierungsleitfaden veröffentlicht. Darin werden Kriterien und technische Mindeststandards für handwerklich saubere Visualisierungen beschrieben. „Wir erhoffen uns durch das Tool eine präzisere und nüchternere Darstellung“, erläutert Bönisch. „Es sind technisch sauber aufgesetzte 3D-Modelle, die in die Landschaft gerechnet werden. An diesen kann man nichts verändern.“
Positive Resonanz
In den ersten Tests sei die App sehr positiv bewertet worden. „Allerdings konnten die Testpersonen nur die allerwenigsten der geplanten Anwendungsaufgaben erfüllen, weil die Zeit nicht ausgereicht hat“, sagt Bönisch. Auch deshalb soll die Bedienung in den nächsten Tests einfacher werden.
Dennoch ist die Soziologin sicher, dass die App nur wenig an der Einstellung der Menschen zur Windenergie ändern wird. „Laut Werbewirkungsforschung sind grundlegende Einstellungsänderungen ein langer Prozess. Einen Fundamentalkritiker wird man mit der App nicht von der Windenergie überzeugen können. Da muss man realistisch bleiben.“ Das würden auch die bisherigen Forschungsergebnisse nahelegen. Die Kritiker würden jedoch den Prozess anerkennen.
Eine weitere Erkenntnis sei, dass es trotz aller technischen Unterstützung „extrem wichtig“ bleibe, jedes Projekt weiterhin im Vorfeld gut zu kommunizieren. Auch das werde in dem Forschungsvorhaben untersucht. Die Kommunen müssten wie alle anderen betroffenen Personen und politischen Akteure von Anfang an involviert sein. Die Auseinandersetzung mit Bürgerinitiativen sollte man nicht scheuen, meint Bönisch.
Wenn alles nach Plan läuft, soll Ende Juni nächsten Jahres der finale Prototyp für das AR4Wind-Projekt fertig sein, sagt Stefan Kauling, die Erkenntnisse aus dem Projekt fließen dann in die Verbesserung der App ein. Die parallel weiterentwickelte Basis-App wird ab dem Spätherbst vermarktet. Für die Akquisephase der Projektierer über einen variablen Flatrate-Tarif: „Wir vereinbaren mit den Kunden individuell einen Tarif von einigen hundert Euro, damit können die Mitarbeiter der Kunden in ganz Deutschland beliebig viele Projekte machen.“
Weitere Funktionen geplant
Die Bilder, welche mit dem Flatrate-Tarif erstellt werden, dürften jedoch nicht für das Antragsverfahren genutzt werden. „Wenn die App auch für die Genehmigungsunterlagen verwendet werden soll, beträgt der Preis für die Lizenz pro Jahr und Projekt 1500 Euro. Sind alle Aufnahmen für die Antragsunterlagen gefertigt, fällt das Projekt wieder unter den Flatrate-Tarif“, sagt Kauling. Bereits jetzt würde die App aber schon in der Praxis verwendet, etwa von Denkmalschutzbehörden. „Sie bewerten damit beispielsweise, ob Bedenken des Denkmalschutzes bei einem Windprojekt überhaupt relevant sein könnten.“
In Zukunft soll das Tool weitere Funktionen erhalten und dann beispielsweise auch für Offshore-Wind verwendet werden können. Es sei zudem geplant, mithilfe von Landschaftsdaten komplette virtuelle 3DLandschaftsmodelle zu erstellen. „Mit diesen auch Virtual-Reality-tauglichen virtuellen 3D-Landschaftsmodellen und der Augmented-Reality-App können Kommunen ihre gesamte Energieversorgung aus Wind und Photovoltaik in Echtzeit visualisieren und durchplanen“, prognostiziert Kauling.
Neben AR4Wind kommt die Augmented-Reality-Technologie auch bei anderen Akteuren für die Projektplanung zum Einsatz. Das Energieunternehmen EnBW etwa hat auf der Messe Husum Wind im vergangenen Jahr die App Revisar (Renewable Energy Visualisation with Augmented Reality) für iPads vorgestellt. „Wir haben im Juni 2020 mit der Entwicklung begonnen, seit letztem Jahr wird die App von den Projektierern im Unternehmen genutzt“, sagt Mark Zimmermann, Leiter des Center-of-Excellence-Bereichs für mobile Softwarelösungen bei EnBW.
„Mit Revisar lassen sich fotorealistisch und geografisch korrekt verortet alle gängigen Windenergieanlagentypen von mehreren Herstellern in der richtigen Höhe darstellen, voll animiert mit Rotor- und Gondeldrehung sowie mit den vor Ort herrschenden Licht- und Wetterverhältnissen.“ Man habe bei der Entwicklung alle gängigen Visualisierungsleitfäden von Behörden berücksichtigt.
Windräder ausblendbar
Für die Anwendung brauche man nur ein iPad, die GPS-Koordinaten des Anlagenstandorts sowie dessen Höhe. Die eigene Position werde mithilfe von GPS direkt am iPad ermittelt. Für Anpassungen von Feinheiten im Kompass und bei der Höhe gebe es eine spezielle Kalibrierungsunterstützung. Die Software verfüge über eine automatische Landschaftserkennung. „Die Anlage wird perspektivisch korrekt verdeckt, wenn Häuser, Bäume oder Hügel im Weg sind“, sagt Zimmermann. Zudem gebe es die Funktion, tatsächlich vorhandene Anlagen auf dem Bildschirm herauszurechnen beziehungsweise auszublenden. Das sei etwa für Repoweringprojekte hilfreich, bei denen mehrere Bestandsanlagen durch weniger, aber leistungsstärkere Neuanlagen ersetzt werden.
Das System funktioniere weltweit, auch für Offshore-Wind. Ebenso könnten sich auch andere landschaftsprägende Elemente wie beispielsweise Photovoltaikanlagen, Stromtrassen, Umspannwerke oder Kläranlagen damit darstellen lassen, so Zimmermann. Für PV-Anlagen brauche es statt einer GPS-Koordinate jedoch ein Geländemodell.
Laut EnbW-Sprecherin Miriam Teige gebe es Interesse von anderen Projektierern an der App, eine Vermarktung werde geprüft, man habe das System aber vor allem für den internen Gebrauch entwickelt. „Wir sehen darin auch einen Wettbewerbsvorteil für uns und unsere Tochtergesellschaften“, so Teige.
Die App werde im Bereich Windenergie aktuell bei Infoveranstaltungen, bei Gemeinderäten, bei Bürgermeistern und Betroffenen vor Ort genutzt. „Mit der App sind wir in der Lage, viel frühzeitiger mit allen Beteiligten in Kontakt zu treten, um ihnen zu zeigen, wie das Projekt aussehen könnte“, sagt Teige. „Man kommt leichter mit den Leuten ins Gespräch und nimmt ihnen die Angst, die gerade bei Windenergieanlagen groß ist.“ Auch wenn man überzeugte Gegner damit nicht umstimmen könne, trage die App auf jeden Fall zur Akzeptanzsteigerung bei.
Dieser Text ist zuerst in der Ausgabe 10/2022 von neue energie erschienen.