In dieser Reihe stellen wir Ideen und Lösungen für die Energiewende vor.
Einen Landkreis klimaneutral bekommen und damit auch noch die heimische Solarindustrie retten? Es ist eine verwegene Idee, aber der Landrat von Mittelsachsen Dirk Neubauer will genau das versuchen. Vor kurzem hat mit dem Solarwerk von Meyer Burger eines der großen Unternehmen im Landkreis die Produktion eingestellt. Ein Tiefschlag, sagt Neubauer. Für ihn bedeutet die Schließung nicht nur den Wegfall von 500 Jobs. Es ist ein Verlust von Innovation in Sachsen.
Dagegen will Neubauer ankämpfen, indem er regionalen Absatz ankurbelt: Tausend Hektar Solarflächen mit Modulen aus europäischer Produktion sollen im Landkreis Mittelsachsen entstehen, der fast so groß wie das Saarland ist. Investoren sollen PV-Anlagen bauen, Speicher errichten und die Bevölkerung mit Strom und Wärme versorgen. Die Einwohner sollen von Anfang an über den Ausbau der Erneuerbaren in ihren Gemeinden mitentscheiden und sich daran beteiligen. Unter dem Schlagwort Landwerke Mittelsachsen ist diese Idee mittlerweile in ganz Sachsen bekannt.
Felix Rodenjohann hat den eloquenten Landrat in der Talkshow von Markus Lanz über seinen Plan reden hören und ihn danach einfach angerufen. Rodenjohann ist Unternehmer und Mitgründer des Vereins Klimaunion, der CDU und CSU Klimaschutz lehren will. „Sie haben bei Lanz gesagt, wir müssen nicht immer nur reden, sondern auch machen, dann lassen Sie uns mal machen“, hatte Rodenjohann zu Neubauer gesagt. Seither treiben beide die Idee voran.
Unter dem Dach der frisch gegründeten Landwerke GmbH und Co KG sollen jetzt die tausend Hektar Solarflächen entwickelt werden. Landbesitzer können sich via Internet melden und Standorte anbieten. Die Landwerke-Idee reicht jedoch weit über den Bau von Photovoltaik-Anlagen hinaus. Gemeinden sollen zu Energiezellen werden: Sonne, Wind, Biomasse oder Geothermie liefern Energie, die zuerst in den Kommunen selbst als Strom und Wärme verbraucht wird. Das von Rodenjohann gegründete Unternehmen Ansvar 2030 berät Kommunen, moderiert und entwirft Konzepte für Klimaneutralität.
Anfang Juli haben der Visionär Neubauer und der Macher Rodenjohann gemeinsam die Idee der Landwerke in einem ersten Dorf in Sachsen vorgestellt. Neukirchen ist ein für das Bundesland typisches Dorf – die Häuser liegen wie an einer Perlenkette aufgefädelt an einer langgestreckten Hauptstraße. Es gibt ein altes Rittergut im Ort, Landwirtschaftsbetriebe, eine Schule, Feuerwehrhaus und Tagespflege. Zwei Windenergieanlagen aus den 1990er-Jahren stehen am Ortsrand. Auf einigen Gebäuden sind Solarmodule zu sehen. 710 Menschen leben in Neukirchen.
Früher Beteiligungsprozess
Einige Landbesitzer in der Gemeinde haben Interesse am Bau eines Solarparks. Die Akquise von Flächen soll in Neukirchen jedoch anders laufen, als das sonst häufig praktiziert wird. Meist pachten Projektierer Flächen und entwickeln sie bis zu einem bestimmten Grad. Erst dann startet der Beteiligungsprozess in den Kommunen – so wie es in der Bauleitplanung vorgeschrieben ist „Dieses Vorgehen führt aus unserer Sicht dazu, dass Bürgerbegehren gegen Solar- und Windparks entstehen“, sagt Rodenjohann. Es gebe zu viele Klagen und Gerichtsverfahren, zu viele Projekte scheiterten dadurch, es werde zu viel Geld verbrannt.
Die Berater von Ansvar 2030 sind deshalb auf die Gemeinde Neukirchen zugegangen, bevor Pachtverträge abgeschlossen wurden. Ansvar will erreichen, dass in der Gemeinde ein Konsens gefunden wird, auf welchen Flächen PV-Anlagen entstehen sollen. Bürger sollen von vornherein mitreden können. „Dieser Flächenkonsens ist die Basis dafür, dass kein Bürgerbegehren gegen Projekte gestartet wird“, ist Rodenjohann überzeugt. Komme diese Übereinstimmung nicht zustande, ziehe sich Ansvar zurück. „Wir packen nur die Projekte an, die eine Aussicht auf Gelingen haben.“
In Neukirchen haben Rodenjohann und der Landrat in ersten Bürgerversammlungen die Idee vorgestellt, über Freiflächen-Photovoltaik, Dachsolaranlagen und Wärmepumpen informiert. Ansässige sollen sich an Freiflächenanalgen beteiligen können – zum Beispiel über Genossenschaften. Eine solche Beteiligung könnte auch verhindern, dass die Anlagen irgendwann ins Ausland verkauft werden. Denn vor allem sollen die Einwohner die erzeugte Energie selbst verbrauchen können, in Wärmepumpen zum Beispiel oder in Ladestationen für E-Autos.
„Wir wollen die Energie im Dorf lassen“, sagt Rodenjohann. „Es ist den Einwohnern nicht vermittelbar, wenn vor ihrem Dorf ein 50-Megawatt-Solarpark entsteht, im Ort aber weiter mit Gas geheizt wird und die Leute nicht wissen, wie sie ihre Gasrechnung bezahlen sollen.“ Die Neukirchener sollen zugleich selbst zu Stromproduzenten werden können, ohne große Investitionen stemmen zu müssen. Die ebenfalls von Rodenjohann geführte Firma District Energy bietet Wärmepumpen und Solaranlagen in einem Mietmodell an. Erste Erhebungen haben gezeigt, dass die Neukirchener Strom sparen, aber viel Auto fahren und hohe Kraftstoffkosten haben. Deshalb wird über Ladesäulen an einem künftigen Solarpark nachgedacht, wo Einwohner preisgünstig Direktstrom beziehen könnten. Das Versprechen ist, dass die Menschen am Ende weniger für grüne Energie bezahlen sollen als heute für Kohlestrom, Erdgas, Benzin und Diesel.
Von der Energiewende im Kleinen soll die vorhandene Solarindustrie in Ostdeutschland profitieren. Die kann aus Rodenjohanns Sicht nur dann erhalten bleiben, wenn die Module in der Region verbaut werden – in großem Stil. District Energy könnte für viele Hausbesitzer Paneele en masse günstig bestellen. Wenn sie direkt vom Werk geliefert werden, spart das Logistikkosten, was Wettbewerbsnachteile gegenüber chinesischen Billigprodukten ausgleicht. Installieren sollen die Module ansässige Handwerker. Deutschen Herstellern könnte das einen Vorteil gegenüber der chinesischen Konkurrenz verschaffen, wenn sie eine enge Verbindung zu den hiesigen Installateuren und Kunden aufbauen.
Hoffen auf den Dominoeffekt
Das ist die Theorie. Neukirchen ist das erste Landwerke-Dorf, das sie umsetzen könnte. Wenn die Idee dort aufgeht, dann gibt es einen Dominoeffekt, hoffen die Initiatoren. Felix Rodenjohann will ein System für die Energiewende im Dorf entwickeln, das skalierbar und übertragbar ist. Weitere interessierte Gemeinden gebe es bereits, sagt Landrat Dirk Neubauer. Mit dem Ausbau der Erneuerbaren sollen auch Ansiedlungen in die Region gelockt und die Solarindustrie gehalten werden.
Mehr als 700 Millionen Euro Investitionen will Neubauer mit seinem Projekt in den Landkreis holen. „Wir sind anfangs sehr belächelt worden wegen dieses Ziels“. Nach zwei Monaten habe es aber bereits Flächenangebote über 300 Hektar gegeben und Absichtserklärungen von Investoren über eine Milliarde Euro. Die potenziellen Geldgeber kämen aus ganz Europa, darunter seien bekannte Unternehmerfamilien, aber auch Sparkassen und Volksbanken. Wer investieren will, verpflichtet sich zu Bürgerbeteiligung.
Im Gegenzug verspricht der Landkreis Planungsbeschleunigung. Neubauer kann sich verschiedene Modelle für eine Beteiligung vorstellen: Das könnte etwa Bürgerstrom für 20 Cent pro Kilowattstunde sein, Gewerbestrom für sieben bis acht Cent. Kommunen sollen sich an den Landwerken beteiligen. „Wir haben das durchgerechnet“, sagt Neubauer. „Bei 1000 Hektar Solarfläche kommt man im Jahr auf einen finanziellen Rückfluss von 30 Millionen Euro Netto-Reingewinn, der zu verteilen wäre unter all jenen, die sich an dem Projekt beteiligen“. Für viele finanziell klamme Kommunen könnte das eine willkommene Einnahme sein.
Neubauer hatte von vornherein erklärt, die Idee zusammen mit einigen Bürgermeistern und der Wirtschaft umsetzen zu wollen. Im Kreistag kann er derzeit kaum mit Rückhalt rechnen. Nach der Kommunalwahl im Juni entfallen auf die AfD 30 von 98 Sitzen, gefolgt von der CDU mit 26 Mandaten und den Freien Wählern mit 17 Sitzen. Für solche Themen bekomme er leider keine stabile politische Mehrheit, hatte Neubauer kurz nach dem Start des Landwerke-Projekts bedauert. Ende Juli erklärte er dann seinen Rücktritt vom Amt des Landrats. Er begründete das in einem Online-Video mit persönlichen Angriffen und fehlender Unterstützung für seine Politik des Klimaschutzes und der Energiewende. Vor allem der CDU-Fraktion im Kreistag warf Neubauer eine Blockadehaltung vor, das Gigawatt-Projekt werde von der CDU bekämpft.
Das Projekt hat zum Ziel, bis 2030 Solaranlagen aus europäischer Produktion mit mindestens einem Gigawatt Leistung im Kreis zu installieren. Neubauer hofft, dass das stillgelegte Solarwerk von Meyer Burger in Freiberg wieder angefahren werden könnte. „Noch ist dieses Werk nicht weg.“
Gegner und Befürworter, dazwischen die Landwirte
In Neukirchen ist die Landwerke-Idee in zwei Veranstaltungen vorgestellt worden, zuerst für Flächenbesitzer und Entscheider, Anfang Juli dann für die Allgemeinheit. Im Dorf gebe es durchaus Interesse „sich das Ganze mal im Detail anzuhören und darüber nachzudenken“, sagt Bürgermeister Markus Buschkühl. Er findet gut, „dass man eben nicht nur eine Photovoltaikanlage aufs Feld baut und den Strom wegverkauft, sondern dass Möglichkeiten geschaffen werden, den Strom im Ort zu verbrauchen und damit die Einwohner direkt zu beteiligen“.
Was erneuerbare Energien angeht, bestehen in Neukirchen zwei Lager: absolute Befürworter und totale Gegner. Dazwischen stehen die Landwirte, die durchaus Interesse an Photovoltaik haben, aber auch Sorge vor dem Verlust von gutem Ackerboden. Der Bürgermeister glaubt, dass es grundsätzlich eine relativ große Akzeptanz für Erneuerbare in der Gemeinde gibt und dass die Akzeptanz dann steigen wird, wenn Einwohner konkrete Vorteile sehen. Diese Erfahrung hat Neukirchen bereits mit einem Nahwärmenetz gemacht, das ein Landwirt aus dem Ort vor allem mit Reststoffen betreibt. Das Interesse an einem Anschluss war zunächst verhalten, nach dem Preisanstieg in der Energiekrise nahm es zu. Schule und Turnhalle werden mittlerweile auch über das Nahwärmenetz versorgt.
In Neukirchen stehen verschiedene Beteiligungsoptionen für Bürger im Raum. Die Kommune selbst könnte bis zu 0,2 Cent pro erzeugter Kilowattstunde Strom aus einem PV-Park erhalten. 0,1 Cent pro Kilowattstunde sind in Sachsen verpflichtend, eine Verdopplung der Abgabe kann vereinbart werden. Geprüft werden soll auch, ob es sich für die Gemeinde lohnt, Solarpaneele auf kommunalen Gebäuden zu errichten.
Für die Bürgerversammlung im Juli hatte Buschkühl mehr als 500 Einladungen an die Haushalte verschickt. Es gab kostenlos Burger und Bier im Gemeindezentrum. Am Ende kamen 60 Leute. „Es waren zu wenig Einwohner da“, sagt Buschkühl und klingt etwas enttäuscht. Er fragt sich jetzt, wie er die Neukirchener hinterm Ofen hervorlockt und sie motiviert, über die Sache mit der grünen Energie nachzudenken und mitzureden. Den Haushalten im Ort soll nun eine individuelle Beratung angeboten werden. Denn nur wenn sich genug Einwohner beteiligen, wird sich die Landwerke-Idee umsetzen lassen. Mit der Rücktrittsankündigung des Landrats soll sich am Projekt nichts ändern. „Wir machen weiter“, sagt Ansvar-Chef Felix Rodenjohann.
Dieser Text stammt aus der Ausgabe 07/08/2024 von neue energie und erscheint hier in leicht aktualisierter Fassung.
Ein Interview mit Dirk Neubauer zu seinem Rücktritt und den Folgen finden Sie hier.