Ideen und Lösungen

„Jeder kleine Erfolg hat uns mutiger gemacht“

Der Rhein-Hunsrück-Kreis produziert mehr als 300 Prozent seines Strombedarfs aus erneuerbaren Energien. Klimaschutzmanager Frank Michael Uhle erzählt, wie sein Kreis den Wandel vom ökonomischen Hinterbänkler zum Vorbild für Regionalentwickler aus der ganzen Welt geschafft hat.
Protokoll: Astrid Dähn
09.08.2024 | 14 Min.
Erschienen in: Ausgabe 08/2024
Seit ihrer Eröffnung vor neun Jahren hat die Geierlay-Hängeseilbrücke schon rund 2,5 Millionen Besucher angelockt. Sie wurde mit Pachteinnahmen aus Windparks finanziert.
Seit ihrer Eröffnung vor neun Jahren hat die Geierlay-Hängeseilbrücke schon rund 2,5 Millionen Besucher angelockt. Sie wurde mit Pachteinnahmen aus Windparks finanziert.
Foto: Rolf Wilms/picture alliance

In dieser Reihe stellen wir Ideen und Lösungen für die Energiewende vor.

Der Anfang war eher unspektakulär: 1999 hat mich die Kreisverwaltung als Architekt im Gebäudemanagement eingestellt. Im Rahmen der Agenda 21 hatten hier – wie in vielen anderen Kommunen deutschlandweit – engagierte Bürgerinnen und Bürger Arbeitskreise gebildet, um lokale Umweltschutzmaßnahmen zu entwickeln. Daraus entstand für mich der Auftrag, ein Energie-Controlling für die kreiseigenen Schulen und Verwaltungsgebäude aufzubauen. Zunächst haben das alle ein bisschen belächelt – mich eingeschlossen. Ich dachte: Naja, wenn wir am Ende eine Tonne CO2 weniger emittiert haben, macht sich das zumindest gut im Umweltbericht. Nach 13 Jahren hatten wir jedoch allein mit diesen wenigen Gebäuden 9500 Tonnen Kohlendioxid und zwei Millionen Euro Energiekosten gespart. Da ist bei uns allen der Groschen gefallen: Wir haben verstanden, dass es bei der Energieeffizienz nicht nur um Umweltschutz, sondern um knallharte Wirtschaftsförderung vor Ort geht.

Ebenfalls aus dem Agenda-21-Gedanken heraus fasste der Kreistag 2002 den Entschluss zu prüfen, ob in unseren öffentlichen Gebäuden der Einsatz von erneuerbaren Energien möglich ist. Als erstes haben wir daraufhin damit begonnen, auf unseren Sporthallen jeweils sechs bis zwölf Quadratmeter Solarthermie-Röhrensysteme zu installieren, um das Duschwasser zu erwärmen. Wenn Sie mir damals gesagt hätten, dass wir 15 Jahre später mit baugleichen Röhren-Großfeldern drei Orte bei uns im Hunsrück beheizen werden, hätte ich das nicht für möglich gehalten. Aber heute ist es Realität.

Wandel schafft Wohlstand

Jeder kleine Erfolg, den wir hatten, hat uns mutiger gemacht, hat uns auch Rückendeckung in den zuständigen politischen Gremien gegeben. Das Thema Klimakrise war zur Jahrtausendwende in Deutschland schließlich noch nicht so präsent. Es gab konservative Kräfte, die gesagt haben: ‚Wir wollen Wirtschaftsförderung, keinen Klimaschutz.‘ Das hat uns fürchterlich aufgeregt, weil wir eben aus dem Energie- Controlling wussten, welche wirtschaftlichen Dimensionen mit dem Thema verbunden sind. Also haben wir zu jedem unserer Vorhaben die Wertschöpfungskette ermittelt. Wir haben zum Beispiel analysiert: ‚Wenn unser kommunaler Abfallwirtschaftsbetrieb Rhein-Hunsrück Entsorgung zum Beheizen unserer Schulzentren ein Holzhackschnitzel-Kraftwerk baut, das mit Baum- und Strauchschnitt aus den Gärten der Bürger gespeist wird, wie viel Geld bleibt dann in der Region, das vorher für Öl- oder Gasimporte abgeflossen ist? Unsere Wirtschaftsprüfer haben uns testiert, dass allein dadurch fünf Arbeitsplätze entstehen und eine Million Liter Heizölimporte pro Jahr vermieden werden.

Dank solcher Berechnungen der Wertschöpfungsketten konnten wir letztendlich Politiker aller Parteien hinter unseren Projekten vereinen. Wir sind stolz darauf, dass bis heute alle wesentlichen Beschlüsse in den Kreisgremien zu Energie- und Klimaschutzbelangen einstimmig erfolgen. Und das, obwohl wir zwar ein eher wertkonservativer Landkreis sind, aber immerhin neun verschiedene politische Parteien im Kreistag vertreten sind.

Parteiübergreifende Zustimmung

Unser aktueller Landrat, Volker Boch, ist parteilos, mit seiner früheren Tätigkeit als Chefreporter der Lokalzeitung hat er viel dazu beigetragen, dass unsere Klimaschutzkampagnen einen so hohen Stellenwert in der Bevölkerung genießen. Sein Vorvorgänger, Bertram Fleck, der bis 2015 26 Jahre lang im Amt war und den ganzen Transformationsprozess in Gang gesetzt hat, ist CDU-Mitglied, ich ebenfalls. Aber das spielt bei meiner Tätigkeit absolut keine Rolle. Als Verwaltungsangestellter bin ich ohnehin zu parteipolitischer Neutralität verpflichtet. Und das Wichtigste, was ich von Bertram Fleck gelernt habe, ist, alle mitzunehmen. Jeder wird gleichbehandelt, egal welcher Partei er angehört, jeder erhält die gleichen Informationen. Dieses wertschätzende Miteinander ist nach meiner Überzeugung die Basis unseres Erfolgs.

„Jeder kleine Erfolg hat uns mutiger gemacht“
Landrat Volker Boch (links) und Klimamanager Frank-Michael Uhle.

2010 hat der Kreistag einstimmig beschlossen, ein integriertes Klimakonzept aufzusetzen. Im Zuge dessen wurde mir der Posten des Klimaschutzmanagers angeboten. Seit März 2012 darf ich die Transformation bei uns kreisweit vorantreiben, was ich wirklich sehr gerne mache. Das ist eine Leidenschaft, die einen nicht mehr loslässt, wenn sie einen erstmal gepackt hat. Laut unserem Klimakonzept wollen wir bis zum Jahr 2050 40 Prozent unseres Energieverbrauchs einsparen. Wenn uns das gelingt, ist es im Prinzip kein Problem, den restlichen Bedarf in allen Sektoren – Strom, Wärme, Mobilität – mit erneuerbaren Energien aus dem Landkreis zu decken.

1995 wurde in der Region das erste Windrad errichtet, mit 600 Kilowatt Leistung. Die Initiatoren kamen aus der Friedensbewegung, sie hatten damals schon erkannt, dass Kriege oft auch um Öl und Gas geführt werden. Die Anlage konnte 200 Haushalte mit Strom versorgen. Inzwischen drehen sich bei uns 301 Mühlen. Sie gehören überwiegend Stadtwerke-Verbünden und erzeugen statistisch gesehen Strom für 300.000 Haushalte. Wir haben aber nur 35.000 Wohngebäude im Landkreis. Der Überschuss wandert über das Verteilnetz in die Ballungszentren im Umkreis. Laut unserem Verteilnetzbetreiber Westnetz wird die gesamte Energie innerhalb eines Radius‘ von 60 Kilometern abgenommen. Der ländliche Raum ist so quasi zum Energieanbauer für die umliegenden Städte geworden.

Jeder kann profitieren

Wir übernehmen diese Rolle gerne. Denn die meisten Windräder stehen auf Gemeindeland. Mit den Pachteinnahmen dafür können sich die Orte fit für die Zukunft machen. 64 von den insgesamt 137 Gemeinden im Kreis erhalten solche Einnahmen. 60 weitere partizipieren über Solidarpakte: Die Gemeinden legen das Geld auf alle Anrainer um, auch auf die Ortschaften, auf deren Gebiet keine Windräder stehen, die aber auf einen Windpark schauen. Mit diesem Geld haben wir im Kreis den demographischen Wandel gemeistert, wir haben kaum noch Leerstand, die Bevölkerungszahl steigt wieder. 

Denn die Gemeinden können ihren Einwohnern etwas bieten, die Menschen können sogar ganz direkt profitieren: 2015 beschloss der Ort Schnorbach, einen Teil des Gelds zum Energiesparen an die Haushalte zurückzugeben. Dafür finanziert er den Bürgern in Kooperation mit der Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz zunächst eine unabhängige Energieberatung, um zu ermitteln, wo genau Handlungsbedarf besteht. Für den Austausch von Haushaltsgeräten wie Kühlschrank oder Waschmaschine durch energieeffizientere Modelle gibt es dann einen Zuschuss von 100 Euro pro Stück. Für größere Umbauten wie Gebäudedämmung, Anschaffung einer Solaranlage oder eines Batteriespeichers sind jeweils bis zu 2500 Euro Unterstützung möglich.

In Schnorbach stehen 105 Wohnhäuser, davon haben mittlerweile 50 Photovoltaikmodule auf dem Dach, 25 einen Batteriespeicher im Keller. Das Modell hat kreisweit Schule gemacht und der Bürgermeister, auf den es zurückgeht, wurde bei der Wahl vor fünf Jahren mit 85 Prozent der Stimmen bestätigt.

Für mich ist das ein Indiz, dass die Energiewende eine hohe Akzeptanz erfährt, wenn es uns gelingt, die Einnahmen aus der Windpacht sozial gerecht an Ort und Stelle zurückzugeben. Deshalb haben wir die Förderrichtlinien der Ortsgemeinden so strukturiert, dass jeder teilhaben kann, egal ob arm oder reich, Mieter oder Hausbesitzer. 

Die Kommunen fördern neuerdings zum Beispiel auch PV-Balkonmodule mit 30 Prozent der Anschaffungskosten, einkommensschwachen Familien geben wir im Rahmen einer neuen Richtlinie des Landkreises sogar 200 Euro dazu, bei Preisen ab 230 Euro ist das fast geschenkt. Wir organisieren zusammen mit den Gemeinden auch LED-Tauschtage, bei denen die Privathaushalte ihre alten Glühbirnen kostenlos gegen effizientere LED-Leuchtmittel auswechseln können.

Innovationsdruck von Senioren

Diese Aktionen kommen extrem gut an. Und sie schweißen die Dorfgemeinschaft zusammen. In der Ortschaften Neuerkirch-Külz wollten die Bürger beispielsweise ursprünglich nur ein Nahwärmenetz mit Holzhackschnitzeln und Solarthermiefeld bauen. Aber die Unternehmung hat die beiden Dörfer immens angespornt. Wenn der Bürgermeister ein paar Monate lang keine neuen Initiativen mehr vorschlägt, wird sofort nachgefragt: ‚Sind dir die Ideen ausgegangen?‘ Selbst aus Seniorenkreisen bekommt er Druck.

„Jeder kleine Erfolg hat uns mutiger gemacht“
In Schnorbach finden regelmäßig LED-Tauschtage statt.

Kaum erstaunlich also, dass der Gemeinderat Neuerkirch kürzlich als erster in der Region eine Wassersparrichtlinie beschlossen hat. Nach dem Vorbild der LED-Tauschtage können die Bürger dort nun zum Beispiel ihren alten Duschkopf gegen ein wassersparenderes Modell einwechseln. Es gibt außerdem Zuschüsse bis zu 5000 Euro für die Entsiegelung von Grundstücken, den Rückbau von Steingärten oder die Installation von Zisternen. Wir hatten zuletzt an zwei Samstagen wissenschaftlich begleitete Workshops dazu, wie es mit dem Dorfleben in Neuerkirch-Külz weitergehen soll. Da ist wirklich Power drin.

Meine Aufgabe als Klimamanager ist es, diesen tollen Ansätzen kreisweit eine Plattform zu geben. Um andere zum Mitmachen zu bewegen, helfen solche positiven Beispiele wie aus Neuerkirch-Külz und Schnorbach am besten. Wir waren die ersten in Rheinland-Pfalz, die ein Solardach-Kataster eingerichtet haben. Unser Ziel war es 2010, tausend Haushalte davon zu überzeugen, ihr Dach für Photovoltaik zu nutzen. Heute ist jedes fünfte Wohngebäude mit Modulen bestückt, das ist eine doppelt so hohe Quote wie im Bundesdurchschnitt. 

Positive Beispiele setzen

Der Schlüssel zum Erfolg war, einfach mal mit ein paar Gebäuden anzufangen. Wenn die Bewohner der umliegenden Häuser dann sehen, dass ihr Nachbar mit seiner Solaranlage, seinem Batteriespeicher und seiner strombetriebenen Wärmepumpe die Energiekosten auf weniger als ein Viertel gesenkt hat, triggert sie das. ‚Was der kann, kann ich auch‘, denken sie und ziehen nach. Wir nennen diesen Effekt ‚an der sozialen Norm kratzen‘. Das funktioniert bei uns sehr gut.

Seit dem Umstieg auf ein Elektroauto habe ich rund 25.000 Euro Betriebskosten beim Pendeln gespart.“

Auch meine Frau und ich haben unser Haus umgerüstet. Der 95-jährige Altbau hat jetzt isolierende Lehmwände mit Wand- und Deckenheizungen, eine Erdwärmepumpe und Photovoltaik auf dem Hausdach und der Gartendatsche. So konnten wir unsere Energieausgaben von 8200 auf rund 2500 Euro pro Jahr senken. Im Nebeneffekt haben wir ein wunderbares Raumklima – und ich kann mein E-Auto mit eigenem Solarstrom betanken. Vor sechs Jahren habe ich mir einen Renault Zoe als Pendlerauto angeschafft. Mit zertifiziertem Ökostrom fährt ein Elektroauto zu einem Drittel der Betriebskosten eines Verbrenners, mit selbstproduziertem Solarstrom braucht es sogar nur ein Zehntel. Meiner wirtschaftlichen Auswertung zufolge habe ich so seit dem Umstieg rund 25.000 Euro Betriebskosten beim Pendeln gespart.

Um möglichst viele Menschen von der E-Mobilität zu überzeugen, haben wir für das nördliche Rheinland- Pfalz einen Elektrofahrer-Stammtisch gegründet. Einmal im Monat treffen sich dort die ‚Pioniere der E-Mobilität‘ aus der Region, wie ich uns bezeichne. Interessierte können jederzeit dazukommen und mit unseren Autos auch mal Probe fahren. Auch hier geht es also darum, Positivbeispiele zu zeigen – und die Nerven zu bewahren gegenüber all den negativen Mythen, die über Elektrofahrzeuge verbreitet werden.

„Jeder kleine Erfolg hat uns mutiger gemacht“
Die Gemeinde Neuerkirch stellt E-Bikes und Lastenräder zur Verfügung.

Bei der Mobilitätswende im Kreis fokussieren wir uns aber nicht bloß auf den privaten Autoverkehr. Einzelne Gemeinden unterstützen auch die Anschaffung von E-Bikes und Lastenrädern, in einigen Gemeinden steht inzwischen ein Elektro-Dorfauto, das alle Anwohner nutzen können. Gleichzeitig baut der Landkreis gemeinsam mit den Verbandsgemeinden das Alltags-Radwegenetz stark aus und die Taktung des öffentlichen Nahverkehrs wurde erheblich gesteigert.

Junge Leute kehren zurück

Insgesamt hat der Wandel die Lebensqualität bei uns deutlich verbessert. Das bringt nicht nur junge Familien zurück in in die Region, es zieht auch Touristen an. Dank der Windpachten hat der Ort Mörsdorf vor neun Jahren über einen Seitenarm der Mosel die Geierlay-Brücke gebaut, seinerzeit die längste Fußgänger-Hängeseilbrücke Deutschlands. Die Vision dazu gab es schon lange, aber die Umsetzung konnte man sich nicht leisten. Bis 2014 hatte die Gemeinde einen Jahresetat von ungefähr 70.000 Euro, aus dem alles bezahlt werden musste; das reichte nicht mal für eine üppige Weihnachtsbeleuchtung am Gemeindehaus. Aktuell erhält der Ort allein aus den Windparks jährlich 300.000 Euro. Und weil die Brücke ein regelrechter Publikumsmagnet geworden ist, kommen pro Jahr inzwischen noch einmal  500 000 bis 600 000 Euro Gebühren von den Besucherparkplätzen hinzu. Alles in allem bedeutet das mehr als eine Verzehnfachung des Budgets.

In Mörsdorf gab es 14 leerstehende Häuser, die ich selbst bis 2015 für unverkäuflich gehalten hatte, jetzt haben alle Investoren gefunden. 35 neue Arbeitsplätze wurden geschaffen, die Anwohner können sich abends entscheiden, ob sie zum Thailänder, in den Biergarten oder in die Pizzaria gehen wollen. Und die Gemeinde investiert gerade 5,5 Millionen Euro in ein neues Dorfzentrum, ein ökologisches Vorzeigeprojekt in Holzbauweise. Dort soll der Kindergarten untergebracht werden und eine Gemeindeschwester für die Senioren, die noch in ihren eingenen vier Wänden wohnen. Für das Zentrum hat die Gemeinde zudem einen Koch eingestellt, der jeden Tag ein Mittagessen zubereitet, mit Lebensmitteln aus der Region. Diese Mahlzeit ist für Klein- und Kindergartenkinder, Grundschüler und Senioren kostenlos. Der Gedanke dahinter ist, dass die Älteren beim gemeinsamen Essen mit den Jüngeren in Kontakt kommen, ihr Wissen weitergeben, vital bleiben.

Die Vorteile überwiegen

Natürlich haben die Windräder auch das Landschaftsbild verändert – was nicht jedem gefällt.  haben im Kreis nach meiner Einschätzung etwa 20 hartnäckige Windkraftgegner, die für Sachargumente nicht zugänglich sind. Aber die allermeisten Mitmenschen wägen Vor- und Nachteile gegeneinander ab. Auf Bürgerversammlungen vor Errichtung eines Windparks haben die Ortsbürgermeister klar gesagt, w elche Einnahmen zu erwarten sind und wofür sie das Geld konkret ausgeben möchten. In der Regel erhielten sie daraufhin immer mindestens 70 Prozent Zustimmung. 

Wir erhalten viel Zuspruch von Gästen aus aller Welt, die in unseren Kreis reisen."

Selbst Leute, die sich anfangs wegen der möglichen Naturbelastung schwergetan haben mit den Windrädern, erkennen mittlerweile an, dass die ökologischen Ausgleichsmaßnahmen wirken, auf denen die Bürgermeister bestanden haben. Wir hatten noch nie so eine vielfältige Wildtierpopulation auf dem Hunsrück. Es gibt Wildkatzen, Rebhühner, Rotmilane, sogar die Schwarzstörche sind zurückgekommen. Früher waren keine Brutpaare nachgewiesen, heute sind es neun.

„Jeder kleine Erfolg hat uns mutiger gemacht“
2022 besuchte der Generalsekretär aller Könige Afrikas den Kreis.

Dem Tourismus scheinen die Windparks ebensowenig zu schaden. Nach offiziellen Schätzungen hat die Geierlay-Brücke bislang etwa 2,5 Millionen Besucher angelockt. Bei der Überquerung sehen sie links und rechts Windräder. Ich habe noch nie gehört, dass sich jemand über den Anblick beschwert hätte. Im Gegenteil. Wir erhalten viel Zuspruch von  den Gästen aus aller Welt, die in unseren Kreis reisen. Seit wir 2011 den europäischen Solarpreis gewonnen haben, und noch einmal verstärkt, seit uns die Agentur für Erneuerbare Energien vor sechs Jahren zur ‚Energie-Kommune des Jahrzehnts‘ ernannt hat, gelten wir als Paradebeispiel dafür, wie sich ländliche Räume mittels Einnahmen aus erneuerbaren Energien revitalisieren lassen. 

Im Laufe der Zeit haben wir Fachbesucher aus 85 Nationen durch unsere Dörfer geführt. Eine besonders enge Partnerschaft hat sich mit Kommunen in Japan ergeben, die oft ähnlich unter Überalterung und Landflucht leiden wie deutsche Gemeinden und ihre Energieversorgung neu aufstellen wollen. Eine der 27 japanischen Delegationen kam beispielsweise aus der Region Fukushima.

Gerüstet für kommende Energiekrisen

In den nächsten Jahren wollen wir unsere lokale Energiewende weiterentwickeln. Die Areale für Windparks werden wir nicht mehr wesentlich erweitern, wir haben bereits 3,3 Prozent unserer Landkreisfläche ausgewiesen. Es gab zwar Überlegungen der Regionalplanung, noch mehr Gebiete zur Verfügung zu stellen, gewissermaßen als Ausgleich für das Defizit anderer Kreise; alle Regionen müssen bis 2026 mindestens 1,4 Prozent der Landesfläche für Windparks bereitstellen. Aber das hat unser Kreistag einstimmig abgelehnt. Zur Begründung haben unsere Politiker den Vertretern der hinterherhinkenden Regionen unter anderem gesagt: ‚Was ihr macht, das grenzt schon an Veruntreuung. Wie könnt ihr fahrlässig solche Chancen, so viele Einnahmen für eure Kommunen liegen lassen?‘

Uns geht es künftig vorrangig darum, eine eigene Kreisenergiegesellschaft aufzubauen. Ihre Gründung hat der Kreis auf Betreiben von Landrat Boch unlängst gemeinsam mit allen kommunalen Partnern beschlossen. Die erste Keimzelle für das Unternehmen schaffen wir gerade, indem wir auf einer stillgelegten Mülldeponie eine Photovoltaik-Freianlage errichten. Im Zuge des Repowerings – also des Ersatzes alter Windräder durch neue, leistungskräftigere – bemühen wir uns, auchWindkraftanlagen in den Betrieb unserer Energiegesellschaft zu bekommen. Dann können wir heimische Firmen direkt mit Strom beliefern, zu garantierten Preisen. Das sichert Jobs. Außerdem wollen wir eigene Strombilanzkreise einrichten, sodass wir zunächst allen Gemeinden im Umfeld der Windräder günstige Stromtarife anbieten können, später der Bevölkerung im gesamten Kreis. Damit sind wir gerüstet, wenn die nächste Energiekrise kommt und die Preise wieder durch die Decke gehen. Auch ein Beitrag zur Daseinsvorsorge.

Noch viel zu tun

Bilanziell ist unser Landkreis seit 2018 emissionsfrei, zumindest nach der alten Berechnungsmethode unseres Klimakonzepts, bei der wir mit der hohen Überproduktion an Ökostrom unseren CO2-Ausstoß bei Wärme und Verkehr komplett kompensieren konnten. Es geht beim Klimaschutz aber nicht um Bilanzen, sondern um tatsächliche Emissionen. Deshalb nehmen wir uns jetzt die beiden problematischeren Sektoren Wärme und Mobilität vor. 

Trotz unserer 17 Nahwärmeverbünde, die mit Holzhackschnitzeln befeuert werden, und trotz der Wärmepumpen-Kampagnen schätze ich, dass immer noch rund 80 Prozent der Gebäude fossil beheizt werden. Die kommunale Wärmeplanung, an er wir zurzeit in allen Gemeinden koordiniert arbeiten, wird das in einigen Monaten genauer beziffern können. Ähnlich sieht es beim Verkehr aus. Bei uns im Kreis sind zwar schon 2500 Elektroautos und 3500 Hybridfahrzeuge im Einsatz, insgesamt sind aber 75.000 Pkw angemeldet. Auch da liegt folglich noch der größte Teil des Weges vor uns.

Es macht Spaß, Teil einer positiven Bewegung zu sein."

Ich bin aber zuversichtlich, dass wir gut vorankommen werden. Ich bin jetzt 54 Jahre alt, wenn ich 2037 in Rente gehe, werden wir schon einen großen Schritt weiter sein. Davon bin ich fest überzeugt, auch wenn es mich durchaus beunruhigt, dass in vielen europäischen Staaten – auch in Deutschland – zurzeit die politischen Kräfte erstarken, die Klimaschutz und eine konsequente Energiewende infrage stellen. Wir setzen hier zum Glück konkret greifbare Projekte um. Wir sind Praktiker vor Ort, die immer wieder unter Beweis stellen, dass nachhaltige Konzepte alltagstauglich sind, dass sie keinen Komfortverlust bedeuten, dass es im Gegensatz sogar Spaß macht, Teil einer positiven Bewegung zu sein. Das gibt mir Energie und Auftrieb.

Dieser Text stammt aus der Ausgabe 07/08/2024 von neue energie.

Fotos im Text: Rhein-Hunsrück-Kreis

 

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