Ende Januar am Ufer der Swine. In der Luft liegen das Salz der nahen Ostsee und eine Spur vom blauschwarzen Dunst aus den Schornsteinen der vielen kohlebeheizten Hauser in Polen. Janusz Bil ruckt seinen Helm zurecht, blickt in die Gesichter seiner Besucher und führt sie dann mit entschlossenem Schritt auf das Gelände, das sich Hunderte Meter breit und lang vor ihnen erstreckt.
Immer wieder bleibt der Chef von Orlen Neptun stehen und preist die Vorzüge des schotterbedeckten Areals: Hier kann der Boden Lasten von 30 Tonnen pro Quadratmeter aufnehmen, dort drüben sind es sogar 50 Tonnen. Mehr als 240 Meter misst jeder der beiden Liegeplätze vorn an der Kaikante, und zwölfeinhalb Meter tief ist das Wasser. Das reicht fur die größten Offshore-Wind-Schiffe der Welt.
Was Janusz Bil seiner Besucherdelegation aus der Wind- und Hafenindustrie von halb Europa damit sagen will, ist klar: Wir sind bereit. Orlen Neptun, die Offshore-Wind-Tochter des staatlichen Mineralolkonzerns Orlen, hat hier in Swinemünde (´Swinouj´scie) einen Hafen der Spitzenklasse gebaut.
Aufholjagd auf See
Es herrscht unverkennbar Aufbruchstimmung in Polens Offshore-Windenergie. Das Land ist spät gestartet, aber jetzt setzt es zur Aufholjagd an. Seit Februar stehen auf Höhe der Stadte Choczewo und Łeba die ersten Fundamente in polnischen Ge-wässern. 23 Kilometer vor der Küste baut Orlen mit dem kanadischen Energiekonzern Northland den Windpark Baltic Power. Geht er nächstes Jahr in Betrieb, werden die 76 Vestas-Turbinen bis zu 1,2 Gigawatt Strom liefern, fast drei Prozent des polnischen Bedarfs.
... beträgt die Leistung der Windenergie in Polen. Ihr Anteil am Strommix des 38-Millionen-Einwohner-Landes lag 2024 bei knapp 15 Prozent. Trotz politischer Widerstände unter der abgewählten PiS-Regierung ist die Branche rasch gewachsen. Die Kohleverstromung verliert dagegen seit Jahren an Bedeutung. Kam sie 2010 noch auf fast 90 Prozent, waren es zuletzt nur noch 56 Prozent.
Und das ist nur der Anfang. Polen hat 20 Offshore-Windflächen ausgewiesen, zwei im Küstenmeer und 18 in der dahinterliegenden Ausschließlichen Wirtschaftszone. In zwei Ausbauwellen sollen bis 2040 Parks mit zusammen 17,7 Gigawatt entstehen, so plant es die Regierung in ihrer Energiestrategie. Es sei „das größte Infrastrukturprogramm des Landes", erklärt Dominika Taranko, Chefin des Lobbyverbands Wind Industry Hub.
Neben dem Duo Orlen/Northland sind in der ersten Welle die polnischen Konzerne PGE und Polenenergia dabei, zudem RWE aus Deutschland, Orsted aus Danemark, Equinor aus Norwegen und Ocean Winds, ein Joint-Venture von Engie (Frankreich) und EDP (Portugal). In den nächsten fünf Jahren wollen sie Parks mit zusammen knapp sechs Gigawatt bauen.
„Offshore Wind Valley" geplant
Wie ernst es die Polen mit ihren Planen meinen, zeigt sich bei einer Bootstour in Stettin (Szczecin), zu der Janusz Bil seine Gäste nach dem Besuch des Terminals einlädt. Gemeinsam mit dem 60 Kilometer entfernten Swinemünde soll Stettin ein „Offshore Wind Valley" bilden, mit Fabriken und Schwerlastkais entlang von Oder, Stettiner Haff und Swine.
Die Bootsfahrt führt vorbei am nagelneuen Turbinenwerk von Vestas, dem im kommenden Jahr eine Rotorblattfertigung folgen soll. Parallel ziehen der österreichische Baukonzern Porr und Windar Renovables aus Spanien Fabriken für Türme, Masten und Fundamente hoch. Weitere Unternehmen im In- und Ausland planen ebenfalls Produktionsstatten in der Region. „Alle Zeichen stehen auf Wachstum", jubelt Rafał Zahorski, von der Stettiner Hafenentwicklungsbehörde.
Polen, das sich seit Jahren so dynamisch entwickelt wie kaum eine andere Region in der EU, plant den Sprung aufs Wasser mit einer Zielstrebigkeit, die Branchenvertreter in anderen Landern oft vermissen. Das Offshore Wind Valley dicht an der deutschen Grenze ist dabei nicht der einzige Standort. An Polens 500 Kilometer langer Ostseeküste entstehen weitere Servicehäfen, Werke und Terminals, mit einem Schwerpunkt in Danzig (Gda´nsk).
Deutschland hinkt hinterher
Zwar läuft seit wenigen Wochen auch in Cuxhaven, Deutschlands wichtigstem Offshore-Wind-Standort, der Bau von drei zusätzlichen Liegeplätzen für Spezialschiffe und Lagerflächen von 38 Hektar. Doch vorausgegangen war ein langes Gerangel zwischen dem Bund, dem Land Niedersachsen und der Privatwirtschaft um die Finanzierung.
Und auch mit den neuen Kapazitäten bleibt Deutschland auf Häfen in den Nachbarlandern angewiesen. Die Stiftung Offshore-Windenergie warnte bereits 2023, dass fur die deutschen Ausbauziele mittelfristig Flächen von bis zu 200 Hektar fehlten. Das entspreche 270 Fußballfeldern.
Weil aber das dänische Esbjerg oder Eemshaven in den Niederlanden ebenfalls stark ausgelastet sind, richtet sich der Blick hoffnungsvoll auf Polen. Künftig könnten von dort aus auch deutsche Projekte bedient werden. Von Konkurrenzdenken zwischen den Häfen ist auf der Bootstour in Stettin denn auch keine Spur. Im Gegenteil. „Es ist genug Arbeit fur alle da", sagt Esbjergs Hafenchef Jesper Bank. „Wir müssen uns gegenseitig helfen, so gut wir können, wenn wir die europäischen Ausbauziele erreichen wollen."
Energieunabhängigkeit angestrebt
... soll die Offshore-Windenergie in der polnischen Ostsee im Jahr 2040 leisten. Das Potenzial insgesamt schätzt der polnische Windenergieverband PWEA sogar auf 33 Gigawatt.
Dass Polen auch im Fall wechselnder Mehrheiten an der Windkraft auf See festhalten wird, halten Beobachter dabei fur sicher. Zwar hatte die national-konservative PiS-Partei den Bau von Windparks an Land fast zum Erliegen gebracht. Doch hinter der Offshore-Windkraft stündenalle politischen Lager, sagt Jedrzej Wojcik vom Thinktank Forum Energii. Spätestens seit Russlands Uberfall auf die Ukraine sei es Konsens, dass sich Polen moglichst unabhängig von Lieferungen aus unsicheren Ländern machen müsse.
Wozu Janusz Bil von Orlen Neptun offenkundig auch China zählt. Auf die Frage, ob er angesichts von Kostensteigerungen und Lieferschwierigkeiten in Europa auch chinesische Turbinen kaufen würde, antwortet er mit drei kurzen Wörtern: „Not at all!"