Ostseewellen plätschern gegen den Sand, dahinter erhebt sich sanft die Kliffküste. Möwen kreischen. Kinder schlecken Eis. Lubmin ist ein verträumter, fast verschlafener Ort. Im Sommer erwacht er kurz zum Leben, wenn Touristen die Strandkörbe belegen. Nur wenige der Sommergäste machen sich auf den Spaziergang durch den Kiefernwald zum Industriehafen. Dorthin, wo sich Lubmins Vergangenheit und Zukunft treffen. Wer am Hafen aus den Kiefern tritt, staunt: Der Blick fällt auf einen mächtigen Bau, das frühere Kernkraftwerk Lubmin. 16 Jahre lieferte es Strom, bevor es 1990 abgeschaltet wurde. Wann der Rückbau abgeschlossen sein wird, ist offen. Sicher ist: Er wird einige Jahrzehnte dauern – und hat bislang sieben Milliarden Euro gekostet. Atomkraft war das Versprechen einer vergangenen Ära. Heute verspricht Wasserstoff eine grüne, klimaneutrale Zukunft. Und ausgerechnet auf dem Gelände des Kernkraftwerks entsteht der deutschlandweit größte Wasserstoff-Hub. 3,9 Gigawatt Energie sollen fünf geplante Elektrolyseure erzeugen. H2Apex, Lhyfe, Deutsche Regas, PtX Development und GP Joule heißen die Unternehmen, die ihre Planungen in Lubmin vorantreiben.
Warum ausgerechnet hier, im auf den ersten Blick so verschlafenen Lubmin? Weil die passende Infrastruktur bereits vorhanden ist. Seit Atomkraftzeiten steht hier ein leistungsstarkes Umspannwerk für den benötigten Strom. Fast noch wichtiger: Hier befinden sich die Anlandepunkte der Nordstream-Pipelines. Drei Leitungen haben früher Erdgas von der Ostsee in den Rest Deutschlands gebracht. Die erste dieser Leitungen wird jetzt gerade umgerüstet. Sie soll statt Erdgas zukünftig Wasserstoff transportieren. „Lubmin ist der vielversprechendste und wichtigste Ort für die deutsche Wasserstoffindustrie“, sagt daher Peter Rößner, CEO von H2Apex.
Schwimmendes Cracker-Terminal
H2Apex will gleich zwei Elektrolyseure in Lubmin errichten. Die eine Anlage soll pro Jahr rund 7000 Tonnen, die andere 9000 Tonnen Wasserstoff produzieren. Andere Firmen planen größer. Deutsche Regas will einen 500-Megawatt-Elektrolyseur bauen, der bis zu 80 000 Tonnen Wasserstoff produziert. Schon im kommenden Jahr soll als schwimmendes Terminal ein sogenannter Cracker in Betrieb gehen, der Ammoniak in Wasserstoff (und Stickstoff) spaltet. Bis zu 30 000 Tonnen Wasserstoff jährlich könnten dann durch die Pipelines gen Süden strömen. Noch größer projektieren Lhyfe und PtX Development. Das französische Unternehmen Lhyfe geht für seinen Elektrolyseur von einer Leistung von 800 Megawatt aus, der Projektentwickler PtX Development plant gemeinsam mit GP Joule eine Anlage mit 1050 Megawatt Leistung – das reicht, um jährlich rund 100 000 Tonnen grünen Wasserstoff zu erzeugen.
Grün ist der Wasserstoff, chemisch H2, weil die für seine Erzeugung nötige Energie von Offshore- und Onshore-Windparks kommt. Die Windparks liefern mehr als genügend Strom für alle fünf geplanten Elektrolyseure. „Das ist auch für die Abnehmer aus der Industrie wichtig, denn viele wollen bewusst ausschließlich mit grünem Strom arbeiten“, sagt Oliver Pielmann, Wasserstoff-Koordinator beim Landkreis Vorpommern-Greifswald, in dem Lubmin liegt.
Henne-Ei-Problem gelöst
Die Autobahn benutzt erprobte Erdgasleitungen. Technische Probleme werden nicht erwartet. Die im Erdgasnetz verbauten Stahlrohrleitungen seien ebenso gut geeignet für den Transport von Wasserstoff, stellte bereits 2023 die Universität Stuttgart in einer Studie fest, die der Deutsche Verein des Gas- und Wasserfachs (DVGW) beauftragt hatte. Nur einzelne Einbauteile oder Stationselemente seien zu ertüchtigen oder auszutauschen. „Millionen Erdgaskunden könnten zügig und zu geringen Kosten mit Wasserstoff versorgt werden“, schlussfolgerte der DVGW. Gascade erprobt derzeit auf den ersten Pipeline-Kilometern, ob die DVGW-Einschätzung den Praxistest besteht. „Wir sind mit den ersten Ergebnissen sehr zufrieden“, heißt es von Gascade, „alles funktioniert bisher reibungslos.“ Das Netz gewinnt an Kontur, jetzt könnten die Produzenten des Wasserstoffs folgen. Allerdings befinden sich drei der fünf Lubminer Elektrolyseure noch im Planungsstadium. Immerhin seien auf den beiden Grundstücken von H2Apex vorbereitende Maßnahmen erfolgt“, so Sprecherin Kirsten Brückner.
Mit vorbereitenden Maßnahmen beschäftigen sich parallel auch die Behörden. Eine ihrer Baustellen ist das Umspannwerk. Es muss um zwei Schaltanlagen erweitert werden, um alle fünf Elektrolyseure ans Netz anzuschließen und die netztechnischen Voraussetzungen zu schaffen, damit sich weitere Unternehmen ansiedeln können. Im Auftrag des Landkreises wird zunächst eine Machbarkeitsstudie für den Netzanschluss in Lubmin erstellt. Sie soll neben den technischen Aspekten insbesondere die wirtschaftlichen Faktoren betrachten und ein tragfähiges Geschäftsmodell aufzeigen.
Unternehmen klopfen bereits an
Eine weitere Baustelle ist die Entsalzung des Meerwassers: Wie bekommt man Wasser in der Qualität, die für die Elektrolyse notwendig ist, und was passiert mit den Salzen? Darüber gibt es zwar einen internationalen Austausch, aber noch keine konkreten Pläne für den Standort Lubmin. Anders sieht es mit der Flächenentwicklung aus: Über die Betreiber der Elektrolyseure hinaus sollen sich weitere Unternehmen ansiedeln, die Wasserstoff und Nebenprodukte wie Sauerstoff und Abwärme in industriellen Prozessen nutzen könnten. In einer Potenzialkarte Wasserstoff wurden dafür Strategieansätze erarbeitet. Mindestens zwei Jahre werde es noch dauern, bis neue Flächen freigegeben werden können, schätzt Wasserstoff-Koordinator Oliver Pielmann. „Anfragen von Unternehmen gibt es allerdings schon heute.“
Wuchert das industrielle Lubmin dann hinein ins touristische Lubmin? „Diese Sorge ist unbegründet“, sagt Pielmann. Ausgedehnte Kiefernwälder dienen als Lärm- und Sichtschutz. „Lubmin ist auch für diesen Sommer schon fast komplett ausgebucht.“ Von Touristen. Und nebenan von Unternehmen, die den Ort zum Wasserstoff-Hub machen.