Deutschland hat gewählt – Europa übrigens auch, schon im vergangenen Jahr. Es hat etwas gedauert, bis sich die EU-Gremien neu zusammengefunden haben. Nun zeigt sich: Die EU-Kommission treibt ihre industriepolitische Agenda unbeirrt voran. Ihr Ziel ist weiterhin die Transformation zu einer nachhaltigen Wirtschaft, um mit dem Fokus auf Klimaneutralität die Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit der europäischen Unternehmen zu stärken.
Eine zentrale Rolle dabei übernimmt der Clean Industrial Deal. „Wir wissen, dass unseren europäischen Unternehmen immer noch zu viele Hindernisse im Weg stehen, von hohen Energiepreisen bis hin zu übermäßiger regulatorischer Belastung“, sagt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Genau das soll der Clean Industrial Deal ändern.
Der neue „Business-Plan“ der Europäischen Union ist die Reaktion auf den Draghi-Bericht, der 2024 vom früheren italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi vorgelegt wurde. Der Draghi-Bericht beklagt die nachlassende Innovationskraft europäischer Unternehmen. Der von der EU-Kommission beauftragte Bericht betont die Notwendigkeit der europäischen Industrie, sich besser auf globale Herausforderungen einzustellen. Der Draghi-Bericht schlägt ein Investitionsprogramm vor, das mit jährlichen Ausgaben von bis zu 800 Milliarden Euro die Wettbewerbsfähigkeit steigert.
Konkurrenz aus China und den USA
Viel Geld, aber laut Draghi notwendig, um mit den Konkurrenten in den USA und China mitzuhalten. Die Vereinigten Staaten haben mit dem Inflation Reduction Act (IRA) rund 400 Milliarden Dollar in die US-Wirtschaft gepumpt, ähnliche Anreize gibt es auch in China für einheimische Unternehmen.
Ein ähnliches Investitionsprogramm startet jetzt mit dem Clean Industrial Deal. Den Aufbau einer „Industrie-Dekarbonisierungsbank“ hat EU-Klimaschutzkommissar Wopke Hoekstra angekündigt. Dafür soll in den kommenden zehn Jahren ein Kapitalstock von 100 Milliarden Euro gebildet werden. Der soll Investitionen von bis zu 400 Milliarden Euro ermöglichen – eine Größenordnung wie beim US-amerikanischen IRA.
Zusätzlich plant die EU-Kommission, Garantien in Höhe von mehr als einer Milliarde Euro über die Europäische Investitionsbank (EIB) zu vergeben. 40 Prozent an „Clean Technologies“ für beispielsweise Solar- oder Windkraft sollen laut Clean Industrial Deal in der Europäischen Union hergestellt werden. Um diesen Wert zu erreichen, sollen EU-Unternehmen bei öffentlichen Ausschreibungen bevorzugt werden. Damit sollen sie zugleich im globalen Wettkampf mit US-amerikanischen und chinesischen Konkurrenten gestärkt werden.
Energiekosten runter
Die Strategie für einen Clean Industrial Deal hat die EU-Kommission am 26. Februar vorgestellt. Sein ausdrücklicher Ansatz: durch Dekarbonisierung zu Wirtschaftswachstum. Niedrigere Energiekosten, weniger Bürokratie, bessere Absatzmärkte durch eine „Buy European“-Politik für nachhaltige Produkte sind die wesentlichen Pfeiler. Dazu kommen neue Ansätze, um Unternehmen finanziell zu unterstützen. Um die Absatzchancen für nachhaltige Produkte zu verbessern, will die EU-Kommission „grüne Leitmärkte“ fördern.
Mit dem Clean Industrial Deal sollen die Energiekosten für europäische Unternehmen sinken. Damit das gelingt, will die EU-Kommission Genehmigungsverfahren beschleunigen, Förderprogramme ausbauen und mehr grenzüberschreitenden Handel von Strom fördern.
Kurzfristig soll die staatliche Förderung langfristiger Abnahmeverträge zwischen Unternehmen und Stromerzeugern stabilere und niedrigere Preise für die Industrie bringen. Parallel werden die EU-Staaten aufgefordert, Stromsteuern und Netzentgelte zu senken. Mit diesem Anschub soll der Stromanteil am Energieverbrauch von heute 21,3 Prozent auf 32 Prozent im Jahr 2030 steigen.
Weniger Bürokratie?
Ein zentrales Vorhaben des Clean Industrial Deal ist der Abbau bürokratischer Hürden. Unternehmen sollen dadurch entlastet werden, dass die Einführung der CSRD-Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung und das EU-Lieferkettengesetz (CSDDD) um ein Jahr aufgeschoben werden. Die CSDDD-Vorgaben sollen deutlich entschärft werden. Auch die komplexe EU-Taxonomie soll entschlackt, außerdem der CO2-Grenzausgleichsmechanismus (CBAM) reformiert werden.
Parallel dazu soll der Regulierungs- und Verwaltungsaufwand drastisch reduziert werden: um 25 Prozent für Konzerne und 35 Prozent für mittelständische Unternehmen. Dazu will die Kommission das geltende EU-Recht durch sogenannte Omnibus-Vorschläge ändern. Auch die Verfahren für den Zugang zu EU-Fördermitteln und -Verwaltungsentscheidungen sollen einfacher, schneller und schlanker werden.
Noch ist der Clean Industrial Deal eine Absichtserklärung, die vom EU-Parlament noch abgesegnet werden muss. Anschließend sind die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union verpflichtet, die Regelungen innerhalb eines festgelegten Zeitraums in nationales Recht umzusetzen.
Wettbewerbsfähiger werden
Der Clean Industrial Deal als weiterentwickelter Green Industrial Deal ist bereits die zweite Reaktion der Europäischen Union auf den alarmierenden Draghi-Bericht. Bereits im Januar hat die EU-Kommission ihren „Kompass für die Wettbewerbsfähigkeit der EU“ vorgestellt. Darin skizziert sie ihre Strategie, wie in Europa wieder mehr innovative Technologien, Dienstleistungen und Produkte hergestellt und auf den europäischen Markt gebracht werden können.
Der Kompass konzentriert sich auf drei Schwerpunkte:
- Innovationslücke schließen: Die EU will ein Umfeld für innovative Start-ups schaffen, die industrielle Führungsposition in wachstumsstarken Sektoren auf Basis von Deep Tech stärken und die Verbreitung moderner Technologien in Unternehmen unterstützen. So soll beispielsweise der Einsatz von Künstlicher Intelligenz in Schlüsselsektoren der Industrie stärker gefördert werden.
- Dekarbonisierung und Wettbewerbsfähigkeit: Erneuerbare Energien sollen kostengünstiger und verlässlich verfügbar gemacht werden. So soll die EU als Standort für energieintensive Industrien und klimaneutrale Technologien attraktiv bleiben. Der Kompass sieht spezifi sche Aktionspläne für energieintensive Sektoren wie die Stahl-, Metall- und Chemieindustrie vor, die vor den größten Transformationsherausforderungen stehen.
- Resilienz und Diversifizierung: Um die Versorgung der EU mit Rohstoffen, erneuerbarer Energie, nachhaltigen Kraftstoffen und sauberen Technologien zu diversifi zieren, schlägt die Kommission den Aufbau neuer Partnerschaften vor, um bestehende Abhängigkeiten zu verringern. Diese Richtungsweiser aus dem Kompass finden sich jetzt im Clean Industrial Deal wieder.
Erste Reaktionen
Viele Tippelschritte statt großer Wurf: So lassen sich die ersten Reaktionen auf den Clean Industrial Deal zusammenfassen. „Einen wirklich durchgreifenden Reformwillen nehme ich in der EU-Kommission noch nicht wahr“, sagt beispielsweise Markus Steilemann, Präsident des deutschen Chemieverbands VCI. „Während die USA und China gezielt Investitionen in Zukunftstechnologien vorantreiben, kämpfen viele europäische Unternehmen mehr mit den Behörden als mit ihren Wettbewerbern“, sagt Bitkom-Hauptgeschäftsführer Bernhard Rohleder, der den Clean Industrial Deal gleichwohl als „positives Signal“ deutet.
„Der Clean Industrial Deal erkennt zwar die enorme Finanzierungslücke bei der Dekarbonisierung der Energie-, Industrie- und Verkehrssektoren an, liefert aber keinen überzeugenden Plan zur Umsetzung der von Präsidentin von der Leyen angekündigten Investitionskommission“, kritisiert Marion Guénard, Referentin für EU-Klimapolitik bei Germanwatch. Die EU-Kommission halte an regulatorischen Instrumenten fest, sagt Hildegard Müller, Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie, „statt der Wirtschaft dringend notwendige Freiheiten zu geben.“
Mögen die skeptischen Stimmen auch überwiegen: Was mit dem European Green Deal ins Rollen gekommen ist, nimmt mit dem Clean Industrial Deal jetzt zusätzlich Fahrt auf. Für mehr Klimaneutralität und damit für eine langfristig wettbewerbsfähige europäische Industrie.