Wasserstoff marsch! Jede Stunde werden im niedersächsischen Lingen bis zu 270 Kilogramm grüner Wasserstoff produziert. Von einer „skalierbaren Blaupause für eine funktionierende Wasserstoffwirtschaft in Deutschland“ spricht Sopna Sury, Chief Operating Ocer Hydrogen bei RWE Generation. Demnächst sorgt eine Tankanlage mit vor Ort erzeugtem grünen Wasserstoff für emissionsfreie Mobilität. Parallel werden Pipelines von Lingen aus energieintensive Industrien versorgen, etwa die Chemieparks in Marl, die Stahlwerke in Salzgitter und BP in Gelsenkirchen.
In Lingen soll der Versuch gelingen, die industrielle Produktion und Nutzung von Wasserstoff mit einer sektorenübergreifenden Wertschöpfungskette vom Reißbrett in die Praxis zu überführen. Hier ist Wasserstoff kein Versprechen auf die Zukunft, sondern bereits Gegenwart. Und damit eine Ausnahme.
Von mehr als 1200 weltweit angekündigten Projekten zur Produktion grünen Wasserstoffs ist bislang weniger als jedes zehnte realisiert worden – so das ernüchternde Fazit einer Studie des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK). „Etliche dieser Projekte erwiesen sich als unwirtschaftlich, etwa wegen zu hoher Kosten oder auch, weil es bislang zu wenig Abnehmer für grünen Wasserstoff oder dessen Derivate gibt“, sagt PIK-Studienleiter Adrian Odenweller. Ist Wasserstoff also nur ein Hype? Haben Politik und Unternehmen zu schnell zu viel erwartet? Und sich allzu früh auf grünen, also klimaneutral erzeugten Wasserstoff kapriziert?
Der Kurswechsel
Die deutsche Wasserstoffstrategie steht vor einem Kurswechsel, nachdem der Fortschritt in Produktion, Transport und Nutzung hinter den ambitionierten Zielen – bis 2030 sollen zehn Gigawatt Elektrolyseleistung erreicht werden – weiterhin zurückbleibt. Fehlende Planungssicherheit, hohe Kosten und regulatorische Unsicherheiten bremsen nach wie vor Investitionen. Die Große Koalition bricht daher mit früheren Prioritäten und setzt auf einen pragmatischeren, technologieoffenen Kurs. Damit der Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft endlich in Fahrt kommt.
Wasserstoff, kurz H2, gilt als Schlüsselressource der klimaneutralen Zukunft – vielseitig, speicherbar, sektorübergreifend einsetzbar. Er lässt sich effizient in Strom rückverwandeln und dort einsetzen, wo Elektrifizierung an ihre Grenzen stößt: etwa in der Stahl-, Zement- oder Chemieindustrie, im Schwerlastverkehr oder in der Schiifffahrt. Als Energieträger – chemisch gebunden etwa in Form von Ammoniak oder Methanol – kann Wasserstoff zudem weltweit transportiert werden. Das vereinfacht den Handel mit erneuerbarer Energie. Damit könnte Wasserstoff das leisten, was Wind und Sonne allein nicht schaffen: Versorgungssicherheit und Flexibilität in einem zunehmend volatilen Energiesystem garantieren.
Doch der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft ist komplex: Er erfordert über technische Innovation hinaus integrierte Infrastrukturen – von der Erzeugung über Transport und Speicherung bis zur Anwendung.
Genau an dieser Schnittstelle zwischen Potenzial und Realität stockt jedoch der Hochlauf. Während Pilotanlagen in Lingen, Leuna oder Oberhausen die technische Machbarkeit demonstrieren, werden deutschlandweit derzeit 62 Großprojekte, gefördert mit rund acht Milliarden Euro aus Bundes- und Landesmitteln, durch langwierige Genehmigungsverfahren und fehlende Investitionssicherheit ausgebremst.
„Gesetze, Richtlinien und Verordnungen auf EU und Bundesebene müssen entschlackt werden“, fordert daher die BDEW-Vorsitzende Kerstin Andreae. „Der regulatorische Rahmen sollte technologieoffen erfolgen, um Investitionen in Infrastruktur zu erleichtern.“ Nur wenn private Investments attraktiv seien, könne hierzulande ein prosperierender Markt entstehen.
Die Farben des Wasserstoffs
Im Koalitionsvertrag vom April 2025 hat die neue Bundesregierung einen Paradigmenwechsel in der deutschen Wasserstoffstrategie eingeläutet. Der bisherige Fokus auf ausschließlich grünen Wasserstoff ist nicht mehr aktuell. Künftig sollen auch blauer Wasserstoff (aus Erdgas mit CO₂-Abscheidung), pinker Wasserstoff (aus Kernenergie) und sogar orangefarbener Wasserstoff (etwa aus Industrieabfällen) als Brückenlösungen gefördert werden.
In der Energiebranche kommt das überwiegend gut an. „Der Koalitionsvertrag adressiert zentrale Hürden: farbneutrale Förderung, Deregulierung, Zertikatvergabe, Infrastrukturausbau und Förderprogramme“, sagt beispielsweise Moritz Schwencke, CEO von Eternal Power, einem Pionier der industriellen Skalierung grünen Wasserstoffs. „All dies muss nun schnell umgesetzt werden.“ Genau das hat die Politik vor. „Wir brauchen alle verfügbaren Hebel, um jetzt Tempo zu gewinnen“, heißt es aus Regierungskreisen. Ein Mix aus großen und dezentralen Elektrolyseuren soll dabei helfen, die Produktion farbneutral zu skalieren und so sowohl Versorgungssicherheit als auch regionale Wertschöpfung zu sichern. Ohne die Langfristziele der Dekarbonisierung aus den Augen zu verlieren.
Kritik an den politischen Vorhaben gibt es dennoch. Weil sich der Koalitionsvertrag zurückhält, was konkrete Maßnahmen angeht. Und weil auch das Bekenntnis zu einer europäischen Führungsrolle Deutschlands vage bleibt. Das könnte daran liegen, dass andere EU-Länder – vor allem die Niederlande, Spanien und Frankreich – längst praktisch umsetzen, wovon in Deutschland meist nur geredet wird.
Was die anderen machen
So entwickelt sich der Hafen von Rotterdam zum zentralen Wasserstoff-Drehkreuz Europas. Mit dem Bau einer 800-Megawatt-Elektrolyseanlage durch Shell und dem CO2-Transport und -Speicherprojekt Porthos positioniert sich die niederländische Hafenstadt als Knotenpunkt der globalen Wasserstoffwirtschaft.
Spanien setzt auf Tempo bei der Entwicklung grüner Wasserstoffprojekte. Der Energiekonzern Iberdrola hat im zentralspanischen Puertollano eine 20-Megawatt-Elektrolyseanlage in Betrieb genommen, die jährlich 3000 Tonnen grünen Wasserstoffs produziert. Ein weiteres Großprojekt ist das Green Hydrogen Valley von Cepsa im Süden Andalusiens, das mit einer Kapazität von zwei Gigawatt bis zu 300.000 Tonnen Wasserstoff jährlich erzeugen soll.
Frankreich verfolgt eine industriepolitisch flankierte Wasserstoffstrategie. Im Rahmen eines Investitionsplans in Höhe von 54 Milliarden Euro kündigte Präsident Emmanuel Macron vor zwei Jahren an, zusätzliche vier Milliarden Euro für die Entwicklung von CO2-armen Wasserstoff projekten bereitzustellen. Damit soll Frankreich möglichst bald zu einer Drehscheibe für Wasserstofftransporte werden.
Und Deutschland? Bleibt trotz weltweit führender Technologie-Pioniere wie Sunfire deutlich hinter den Erwartungen zurück. Auch deshalb rückt die europäische Zusammenarbeit in den Fokus – vor allem beim Ausbau grenzüberschreitender Infrastruktur wie dem European Hydrogen Backbone (EHB). Dieses Pipeline-Netz soll 2030 rund 27 000 Kilometer umfassen, bis 2040 auf 53 000 Kilometer ausgebaut werden und 28 Länder verbinden. Es soll das Rückgrat einer effizienten und sicheren Versorgung werden.
Dabei spielen Länder mit hoher Erzeugungskapazität wie Spanien, Portugal und Marokko eine Schlüsselrolle. Sie könnten als Hubs für grüne Energie fungieren und große Mengen grünen Waserstoffs produzieren, der über das EHB zu den Industriezentren der Europäischen Union transportiert wird.
International denken
Parallel dazu unterstützt die EU mit dem IPCEI-Projekt (Important Project of Common European Interest) Hy2Infra den Aufbau der europäischen Wasserstoff-Infrastruktur mit bis zu 6,9 Milliarden Euro an öffentlichen Mitteln. An 33 Vorhaben in sieben EU-Staaten sind 32 Unternehmen beteiligt. Sie sollen bis 2030 Projekte wie Großelektrolyseure und Wasserstoffinfrastruktur anschieben und private Investitionen von etwa 5,4 Milliarden Euro mobilisieren. Das Besondere: Die IPCEI-Programme und Initiativen wie die Stiftung H2 Global kombinieren öffentliche Fördermittel mit privatem Kapital.
Trotz dieser Bemühungen bleibt die Abhängigkeit von globalen Wasserstofflieferungen bestehen. Deutschland benötigt in den kommenden Jahren weiterhin Importe aus Norwegen, Marokko, Spanien, Portugal und Kanada. Auch Chile und Australien sind als Partner gefragt. Die genannten Länder bieten nicht nur exzellente Bedingungen für die Produktion von grünem Wasserstoff, sondern auch stabile politische Rahmenbedingungen. Damit können sie das Rückgrat der deutschen Importstrategie bilden.
„Deutschland wird bis zu 70 Prozent seines bis 2030 auf 95 bis 130 Terawattstunden steigenden Wasserstoffbedarfs importieren müssen“, sagt Robert Schwarz, Associate Director Wasserstoff bei KPMG. „Dieser Anteil dürfte angesichts des wachsenden Bedarfs auch langfristig bestehen bleiben.“ Damit stellt sich die Frage nach dem Transport des Wasserstoffs.
Dafür greifen Power-to-X-Technologien. Sie binden Wasserstoff in Form besser transportabler Energieträger wie Ammoniak oder Methanol. Ammoniak lässt sich bei –33 Grad Celsius in flüssiger Form lagern und weltweit verschiffen. Um daraus wieder Wasserstoff zu gewinnen, sind spezielle Cracking-Anlagen notwendig. Sie befinden sich derzeit noch im Pilotstadium, beispielsweise bei Thyssenkrupp Uhde oder im Projektverbund des Fraunhofer ISE.
Wasserstoff statt Erdgas
Der gewonnene Wasserstoff wird durch ein Kernnetz zu den Verbrauchern vor allem aus der Industrie geleitet. Das rund 9040 Kilometer lange Pipeline-Netz soll als Rückgrat der deutschen Wasserstoffwirtschaft fungieren. 60 Prozent der Leitungen sind umgewidmete Erdgas-Pipelines, der Rest wird neu gebaut.
Derzeit stehen Netzbetreiber, die eine Schlüsselrolle beim Aufbau des Kernnetzes spielen, allerdings unter erheblichem Druck, die Finanzierung zu sichern. Barbara Fischer, Geschäftsführerin des Verbands der Fernleitungsnetzbetreiber (FNB Gas), fordert von der Politik, „passende Finanzierungsbedingungen“ zu schaffen, um Vertrauen und Investitionen zu gewinnen. Milliardenbeträge müssen vorfinanziert werden, doch im Gegensatz zu Solar- und Windenergie fehlen bislang langfristige Abnahmeverträge.
„Es wird Jahre dauern, bis Elektrolyseure, Speicher und Industrieanlagen durch Leitungen verbunden sind“, sagt daher Sopna Sury, Vorständin bei RWE Generation. „Darum sind Übergangslösungen wichtig – etwa durch dezentrale Abfüllanlagen, die die grünen Moleküle per Tankwagen zum Abnehmer bringen.“ So wie in Lingen. RWE will die Erfahrungen mit der Pilotanlage nutzen, um dort noch in diesem Jahr den ersten 100-Megawatt-Elektrolyseur für die Produktion von Wasserstoff in Betrieb zu nehmen. Auch die Bauarbeiten für einen zweiten Großelektrolyseur in Lingen, sagt COO Sury, „gehen zügig voran“. Die Zeit, sie drängt.
Der Hype um Wasserstoff ist vorbei - jetzt zählt, was funktioniert