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Interview

„Ein soziales Pflaster im Nachhinein reicht nicht“

sagt Ines Verspohl vom Thinktank Zukunft KlimaSozial. Aus ihrer Sicht ist Klimaschutz in Deutschland zu oft mit einer finanziellen Umverteilung von arm nach reich verbunden, insbesondere beim Wohnen. Nur wenn sich das ändert, könne die Energiewende im Gebäudesektor gelingen.
Interview: Astrid Dähn
01.10.2024 | 15 Min.
Erschienen in: Ausgabe 10/2024
Ines Verspohl, Leiterin Sozialpolitik beim Thinktank Zukunft KlimaSozial
Ines Verspohl, Leiterin Sozialpolitik beim Thinktank Zukunft KlimaSozial
Foto: Manuel Gutjahr/PPAM

 

neue energie: Ihr Thinktank ‚Zukunft KlimaSozial‘ hat sich zur Aufgabe gemacht, Klimapolitik und Sozialpolitik zusammenzudenken. Weshalb?

Ines Verspohl: Die bisherige Klimapolitik ist vor allem reicheren Haushalten zugutegekommen und hat ärmere Haushalte belastet. Das fördert zum einen nicht gerade die Akzeptanz von Klimapolitik. Zum anderen muss Deutschland allen Beteiligten ermöglichen, beim Klimaschutz mitzumachen, wenn wir nicht nur Unternehmen CO.-frei machen wollen, sondern auch die Privathaushalte, das heißt, alle Wohngebäude und den gesamten Verkehr. Bei den dafür notwendigen sozialen Konzepten kla.t aus unserer Sicht noch eine enorme Lücke. Die wollen wir schließen und das Ganze dabei sehr grundlegend angehen, also etwa auch die Gegenfrage stellen: Was kann Sozialpolitik zum Klimaschutz beitragen?

ne: Was meinen Sie damit?

Verspohl: Man könnte bei der Organisation der Daseinsvorsorge den Klimaschutz mitbedenken. Menschen fahren nicht nur zur Arbeit, sie fahren auch zum Arzt, zum Einkaufen, zur Apotheke, zur Kita. Wenn man es im ländlichen Raum scha.en würde, wieder Arztpraxen, Läden und Kinderbetreuung in die Dörfer zu bekommen, ließen sich viele Autofahrten sparen und damit auch viel CO2 im Verkehr. Oder nehmen wir das Generationenkapital im Rentensystem. Anstatt das Geld nur möglichst renditeorientiert auf dem weltweiten Aktienmarkt anzulegen, könnte man es auch gezielt in Transformationsprojekte in Deutschland investieren, beispielsweise in die klimafreundliche Umrüstung der Stahlindustrie.

ne: Und wie stellen Sie sich umgekehrt eine soziale Klimapolitik vor?

Verspohl: Es reicht nicht, einfach nur im Nachhinein ein soziales Pflaster auf die beschlossenen Klimaschutzmaßnahmen zu kleben. Wenn die Politik Lösungen erarbeitet, muss sie sich vielmehr von vornherein fragen: Wie können wir mit diesem Ansatz klimapolitisch und sozialpolitisch einen positiven Effekt erzielen? Ein gelungenes Beispiel dafür war die Einführung der Ökosteuer auf fossile Brennstoffe unter dem früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder. Die Einnahmen daraus fließen in die Rentenversicherung, sie senken folglich den Beitragssatz und machen damit Arbeit insbesondere für untere Einkommensgruppen attraktiver.

ne: Die Steuerreform war 1999. Gibt es auch neuere Initiativen, die Ihrer Einschätzung nach in die richtige Richtung gehen?

Verspohl: Das Neun-Euro-Ticket war ein Ansatz, auch ärmeren Haushalten klimaneutrale Mobilität zu ermöglichen. Im Rahmen der Bundesförderung für effiziente Gebäude ist neuerdings beim Umstieg auf klimafreundliche Heizungen ein Sonderzuschuss für Haushalte mit kleinen und mittleren Einkommen sowie für Rentner vorgesehen. Und im novellierten Klimaschutzgesetz steht, dass der Expertenrat für Klimafragen künftig auch die sozialen Auswirkungen der Maßnahmen prüfen soll. Konkreteres gibt es dazu aber noch nicht.

ne: Der Expertenrat soll auch erst aktiv werden, wenn die Maßnahmen schon beschlossen sind...

Verspohl: Das stimmt. Wir schlagen dagegen vor, bei jeder Klimaschutzmaßnahme vorher zu ermitteln, welche gesellschaftlichen Gruppen davon wie betro.en sind. Dann weiß man, dass gewisse Menschen finanziell gar nicht in der Lage sein werden, diese ordnungsrechtlichen Anforderungen umzusetzen, und kann flankierend Förderprogramme auflegen. Oder man sieht, dass ein geplantes Förderkonzept aufgrund seines Designs nur Menschen mit Vermögen erreichen kann. Unsere Hoffnung ist, dass die Politik in solchen Fällen nochmal nacharbeitet.

ne: Fördergesetzgebung und zugehörige Antragsverfahren sind in Deutschland jetzt schon ziemlich kompliziert. Wenn man das System künftig auch noch sozial ausdifferenziert, erhöht das vermutlich den bürokratischen Aufwand. Könnte sich so das ohnehin schon zu langsame Tempo beim Klimaschutz nicht noch weiter verringern?

Verspohl: Wenn es keine passenden Förderprogramme gibt, werden Menschen ohne Vermögen und mit sehr geringem Einkommen ihre Häuser nicht sanieren. Dann wird es überhaupt keinen Klimaschutz in diesen Gebäuden geben. Ich glaube, das derzeitige Tempo bei der Transformation ist so niedrig, weil die Förderprogramme bisher nur kleine Gruppen unterstützt haben. In Deutschland haben wir im Gegensatz zu all unseren europäischen Nachbarn zu lange nur auf sogenannte ‚Early Adopters‘ gesetzt, also auf die Avantgarde, die neue Technologien ausprobieren möchte, und nicht auf die breite Masse.

ne: Die Idee dabei war ursprünglich, den etwas vermögenderen Teil der Bevölkerung dazu zu bringen, in Klimaschutz zu investieren und so die entsprechende technologische Entwicklung voranzutreiben...

Verspohl: Das war auch richtig. Aber Anfang der 2000er Jahre war dieses Ziel eigentlich erreicht. An dem Förderansatz hat sich aber seitdem wenig geändert. Deshalb hinken wir jetzt hinterher, was sich unter anderem am schlechten Sanierungsstand bei den bestehenden Gebäuden in Deutschland zeigt.

ne: Könnte eine sozial integrierende Klimapolitik die Akzeptanz und damit auch die Sanierungsquote im Gebäudebereich erhöhen?

Verspohl: Natürlich hat die Akzeptanz von Klimapolitik in letzter Zeit gelitten, insbesondere unter den Debatten rund um das Heizungsgesetz. Aber es geht nicht nur darum, dass die Menschen die Maßnahmen akzeptieren. Es geht darum, dass sie überhaupt die Möglichkeit haben, sich am Klimaschutz zu beteiligen.

ne: Wie wollen Sie das im Wohnsektor erreichen?

Verspohl: Alle Förderprogramme müssen sozial gestaffelt werden. Sie müssen vom Kopf auf die Füße gestellt werden weg von den Menschen, die viel Geld haben, hin zu den Menschen, die sich das bisher nicht leisten konnten.

ne: Glauben Sie, dass ein Großteil der Betroffenen dann wirklich mitzieht? Mieter beispielsweise können doch selbst kaum etwas tun, sondern sind immer auf die Initiative ihres Vermieters angewiesen, ganz gleich, wie die Förderprogramme gestaltet sind...

Verspohl: Wir müssen im Wohnungsbereich drei Gruppen unterscheiden. Das eine sind die selbstnutzenden Eigentümer. Für sie braucht es Förderung, aber auch organisatorische Unterstützung. In Frankreich wird zum Beispiel mit den Fördermitteln immer auch eine Bauleitung zur Verfügung gestellt. Sie sucht passende Handwerksbetriebe und kontrolliert, ob die Handwerker ordentlich gearbeitet haben. Das ist für Menschen, die sich mit dem Bau nicht auskennen, sehr hilfreich. Dann haben wir die Mieter. In ihrem Fall muss der Vermieter handeln. Um ihn dazu zu bringen, sind gesetzliche Vorgaben und unterstützende Fördermaßnahmen nötig.

ne: Aber bei den Vermietern gibt es doch große Unterschiede...

Verspohl: Ja, hier gilt es zwischen institutionellen Vermietern, also Genossenschaften und großen Wohnungsbaukonzernen, und privaten Kleinvermietern zu differenzieren. Die Großvermieter haben keine Probleme damit, die aktuellen gesetzlichen Regelungen umzusetzen, weil sie genau wissen, wie sie an Fördermittel kommen und wie sie Sanierungsausgaben an die Mieter weitergeben können, etwa über die Modernisierungsumlage. Anders ist das bei privaten Kleinvermietern. Selbständige Handwerker zum Beispiel zahlen nicht in die Rentenversicherung ein und haben sich deshalb häufig Mietwohnungen als Altersvorsorge gebaut. Diese Menschen haben oft kein weiteres Vermögen. Wenn sie in Ruhestand sind, bekommen sie aufgrund ihres Alters auch keine Kredite mehr. Sie sind deshalb in der Regel finanziell nicht in der Lage, die Wohnungen zu sanieren.

ne: Und die dritte Gruppe?

Verspohl: Das sind die WEGs, die Wohnungseigentümergemeinschaften. Sie können nur gemeinschaftlich handeln. Bisher ist die Rechtslage so: Wenn einer in der WEG kein Geld hat für eine neue Heizung, wird keine angeschafft. Das könnte man per WEG-Gesetz ändern und die energetische Sanierung privilegieren, wie man das zum Beispiel für die Barrierefreiheit und den Einbruchsschutz schon gemacht hat. Dann braucht es aber natürlich auch wieder ein Förderprogramm für die WEG-Mitglieder, die ihren Anteil nicht zahlen können. In Frankreich gibt es solch eine sozial gestaffelte Förderlinie für WEG-Miteigentümer bereits.

ne: Sind uns unsere europäischen Nachbarn beim sozialen Klimaschutz im Bausektor generell voraus?

Verspohl: Tendenziell ja. Österreich etwa hat beim Heizungstausch seit Längerem eine soziale Staffelung eingeführt. Menschen mit sehr geringem Einkommen bekommen dort bis zu 100 Prozent der Kosten über Fördermittel erstattet. In Großbritannien waren Energieversorger eine Zeit lang verpflichtet, den Verbrauch der Haushalte mit der schlechtesten Isolierung und den höchsten Energieausgaben zu senken, mussten also Rohre isolieren oder Fenster tauschen. Spannend daran finde ich den Wechsel bei der Verantwortlichkeit. Mit den Energiekonzernen waren plötzlich große Unternehmen in der Pflicht, die ganz andere Fähigkeiten haben, Handwerker zu bekommen. Die meisten europäischen Nachbarländer haben zudem mittlerweile Minimum-Effizienz-Standards eingeführt.

ne: Was bedeutet das?

Verspohl: Es wird zunächst ermittelt, welchen Energiestandard die Gebäude haben. Dann wird den Besitzern mitgeteilt, bis wann welches Haus wie hochsaniert sein muss. Die schlechtesten Gebäude kommen zuerst dran. Der Gebäudezustand kann auch Folgen für die Vermietung haben. In Belgien zum Beispiel darf man in den am geringsten sanierten Häusern die Miete nicht mehr erhöhen, bevor keine Gegenmaßnahmen ergriffen wurden.

ne: Weshalb gibt es solche Regelungen in Deutschland nicht?

Verspohl: Das geht hierzulande schon deshalb nicht, weil uns die nötigen Datengrundlagen fehlen. Wir haben nicht mal einen Überblick darüber, welche Arten von Gebäuden bei uns wo stehen, geschweige denn, welchen Energiezustand, welche Effizienzklasse sie haben. Wir bräuchten dringend ein Gebäuderegister.

ne: Aber drohen solche gesetzlichen Vorgaben zur Energieeffizienz von Gebäuden in Deutschland nicht auch am Widerstand der Bevölkerung zu scheitern? Das Heizungsgesetz hat doch deutlich gezeigt, dass neue Vorschriften schnell auf Ablehnung stoßen, wenn sie einen Privatbereich wie das Wohnen betreffen...

Verspohl: Wenn Ordnungsrecht mit Kosten verbunden ist, muss es immer mit einer sozial gestaffelten Förderung kombiniert werden für diejenigen, die sich eine Sanierung nicht leisten können. Wenn das Heizungsgesetz dazu auffordert, eine Wärmepumpe einzubauen, dann muss man den Menschen, die das Geld dafür nicht haben, einen Ausweg bieten. Es muss Ausnahmeregelungen für Härtefällte geben. Ansonsten kann das zu Verzweiflung und zu totaler Ablehnung führen.

ne: Geht es wirklich nur um die Angst vor finanzieller Überforderung oder auch um die Abwehr von allem, was irgendwie in die eigene Entscheidungsfreiheit eingreift? Ein Tempolimit auf Autobahnen wäre nicht mit Kosten verbunden, wird aber trotzdem von nicht wenigen vehement abgelehnt...

Verspohl: Das ist richtig. Aber im Gebäudebereich höre ich nie das Argument: ‚Es ist aber meine persönliche Freiheit, einfach verglaste Fenster zu haben.‘ Und was für eine Heizanlage sie im Keller haben, ist den meisten Menschen im Grunde egal. Da sind die immensen Kosten der Hinderungsgrund. Wenn wir in diesem Sektor Fortschritte erzielen wollen, kommen wir um eine sozialverträgliche Politik nicht umhin. Das hätte im Übrigen auch positive Nebeneffekte.

ne: Zum Beispiel?

Verspohl: Wenn der Staat viel Geld ausgibt, sollte er immer überlegen, ob die Mittel nicht noch eine weitere positive Wirkung entfalten könnten. Vergibt der Staat beispielsweise Aufträge zur Dekarbonisierung der Fernwärme, kann er darauf achten, dass die bezuschlagten Handwerksbetriebe nach Tarif bezahlen. Das führt mittelfristig zu einer Steigerung der Tarifbindung, also zu besseren Primäreinkommen, und daraus ergeben sich wiederum höhere Steuereinnahmen und mehr Sozialbeiträge für Renten- und Krankenversicherung. Oder wenn der Staat seine eigenen Gebäude saniert, kann er dabei auf grünen Stahl setzen und so diesen Industriezweig beim Klimaschutz unterstützen.

ne: Aber dieses soziale Engagement kostet viel Geld. Deutschland steckt in einer Haushaltskrise, die Ampel-Regierung hat gerade erst die Mittel des Klima- und Transformationsfonds für 2025 stark gekürzt. Kann der Staat die Finanzierung allein schaffen oder muss auch die Bevölkerung zur Kasse gebeten werden?

Verspohl: Genau darüber müssten wir ernsthaft reden: Wer muss wie viel Prozent seines Einkommens beitragen? Was ist da zumutbar, und wie viel muss der Staat übernehmen, zum Beispiel über Hypotheken? Es gilt alle Gebäude in Deutschland zu dekarbonisieren. Also müssten die Förderprogramme in sich so umgeschichtet werden, dass auch die breite Mittelschicht davon profitiert. Wenn aber jeder etwas bekommt, dann wird auch jeder zahlen müssen, die einen mehr, die anderen weniger. Am Ende ist das eine moralische Verteilungsfrage.

ne: Und wer soll dann mehr bezahlen?

Verspohl: Rechtlich gibt es da verschiedene Möglichkeiten. Man könnte zum Beispiel die Schuldenbremse so anpassen, dass eine Schuldenaufnahme für Transformationsprojekte möglich ist. Dazu läuft gerade eine breite wissenschaftliche Debatte. Man könnte auch eine Vermögensabgabe einführen, die ist im Grundgesetz für Notlagen bereits vorgesehen. Man könnte gleichzeitig nochmal ein bisschen an der Erbschaftssteuer drehen, oder an der Einkommenssteuer im oberen Bereich. Außerdem gibt es die Einnahmen aus dem CO2-Preis. Die könnte man anders nutzen als bisher. Es existiert keine einfache Lösung, sondern es wird eine Mischung aus all dem werden.

ne: Bisher fließen die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung in den Klima- und Transformationsfonds. Wie soll man das Geld Ihrer Meinung nach in Zukunft verwenden?

Verspohl: Der CO2-Preis belastet vor allem Haushalte mit geringem Einkommen, weil sie anteilig mehr für Energie ausgeben müssen und ihren CO2-Ausstoß über die bisherige Förderung etwa für E-Autos oder Solaranlagen weniger senken konnten als vermögendere Haushalte. Deshalb wäre es sinnvoll, endlich das ‚Klimageld‘ einzuführen, also eine Pauschale, die den Haushalten aus dem Klima- und Transformationsfonds ausgezahlt wird.

ne: Sollte diese Pauschale pro Kopf an alle Bürger in gleicher Höhe ausgezahlt werden oder sollte es auch dabei eine soziale Staffelung geben?

Verspohl: Für ein Pro-Kopf-Klimageld läuft die Zeit langsam ab. Dadurch, dass wir bisher so stark die oberen Einkommen gefördert haben, haben wir eine Schieflage geschaffen. Die lässt sich nur noch auffangen, indem wir über eine soziale Staffelung beim Klimageld nachdenken.

ne: Hätte die Bundesregierung derzeit überhaupt Spielraum für die Auszahlung eines Klimagelds?

Verspohl: Nein, die Mittel im Klima- und Transformationsfonds sind alle verplant.

ne: Das heißt, die Politik müsste bei der Nutzung dieser Einnahmen grundlegend umdenken?

Verspohl: Ja, aber das muss sie sowieso. Denn 2027 wird der europäische Emissionshandel um die Sektoren Gebäude und Verkehr erweitert, zum sogenannten ETS 2. Dann nimmt die EU das Geld aus dieser CO.-Bepreisung ein und rückverteilt es nach einem Schlüssel an die Mitgliedsländer. Ein Teil davon geht in einen speziellen Klimasozialfonds, über den nur Maßnahmen für vulnerable Haushalte bezahlt werden dürfen, die besonders vom Anstieg des CO2-Preises betroffen sind und über wenig Einkommen verfügen. Auch Kleinstunternehmen, zum Beispiel Bäcker, können von dem Geld profitieren. Dafür muss Deutschland bis zum nächsten Sommer einen Plan erarbeiten und unter anderem definieren, was unter Energiearmut bei uns zu verstehen ist und wie wir sie messen. Den übrigen Teil der ETS-2-Einnahmen, der den Einzelstaaten zukommt, dürfen die Regierungen dann ebenfalls nicht mehr beliebig verwenden. Die EU treibt uns also zu einer sozialeren Klimapolitik.

ne: Wenn Deutschland ohnehin keine andere Wahl mehr hat, weshalb ist dann sozialpolitisch beim Klimaschutz bisher so wenig passiert?

Verspohl: Die Debatte um das Heizungsgesetz war ein Weckruf für alle. Viele Leute hierzulande machen sich jetzt Gedanken zu den sozialen Aspekten von Klimaschutz und Energiewende und erstellen Analysen zu den Verteilungswirkungen. Das muss allerdings auch in konkrete Politik münden.

ne: Ihr Thinktank Zukunft KlimaSozial hat sich Anfang des Jahres gegründet. Waren die aktuellen Diskussionen zum Heizungsgesetz eine Motivation dafür?

Verspohl: Die Pläne gab es schon vorher, aber das war natürlich eine Bestätigung, dass es eine Organisation wie unsere dringend braucht.

ne: An wen richtet sich Ihre Arbeit?

Verspohl: An politische Entscheidungsträger in Ministerien, im Bundestag, in Parteien. Wir wollen dezidierte Vorschläge machen, also vordenken, wie Lösungen konkret aussehen könnten.

ne: Wie ist die Resonanz bisher?

Verspohl: Wir erhalten sehr viele Anfragen, die wir in Teilen noch gar nicht bedienen können, weil wir noch im Aufbau begriffen sind und nicht für alles schon fertige Konzepte haben. Aber wir sind bereits mit allen demokratischen Parteien im Gespräch.

ne: Was ist Ihre Vision dabei?

Verspohl: Unser Ziel ist, dass Deutschland klimaneutral wird und zugleich ein soziales Land bleibt. Dafür untersuchen wir Ungleichheit in mehreren Dimensionen, nicht nur in Einkommen, sondern auch in Vermögen, Lebenserwartung, Zeit, politischer Teilhabe. Es nützt ja nichts, mehr Einkommen zu haben, wenn das komplett zulasten der Zeit geht, die man mit seiner Familie verbringen kann, oder wenn wir mehr Wachstum haben, aber damit unsere Gesundheit ruinieren.

ne: Für den Klimaschutz hat sich Deutschland sehr konkrete Ziele gesetzt, die sich gut überprüfen lassen. Bräuchte es analog ähnlich konkrete ‚Klimasozialziele‘, um Fortschritte in diesem Feld messbar und damit besser einforderbar zu machen?

Verspohl: Es gibt die weltweiten Social Development Goals, denen sich auch Deutschland verpflichtet hat. Dazu zählen Ziele wie Zugang zu Bildung oder Vermeidung von absoluter Armut. Aber das Problem bei sozialen Zielen ist, dass sie immer eine moralische Dimension haben und damit Verhandlungssache sind. Was ist Gerechtigkeit? Was ist Chancengleichheit? Darauf gibt es keine klare technische Antwort wie ‚wir müssen bei netto null CO2-Emissionen ankommen‘.

ne: Was wäre bei einer sozial gerechten Klimaschutzpolitik aus Ihrer Sicht das Vordringlichste?

Verspohl: Dass Klimapolitik Sozialpolitik nicht konterkariert, dass also Klimaschutz nicht eine Umverteilung von unten nach oben bedeutet. Bislang ist das leider oft der Fall.

ne: Wenn es nicht gelingt, diesen Trend umzukehren, ist die Klimapolitik dann zum Scheitern verurteilt?

Verspohl: Man wird weiterhin den Strommarkt dekarbonisieren können. Und auch die grüne Transformation der Industrie ist dadurch nicht gefährdet. Aber um in allen Sektoren in Deutschland auf netto null CO2-Emissionen zu kommen, auch im Gebäudebereich, braucht es zwingend eine soziale Ausgestaltung. 

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