neue energie: Minister Robert Habeck hat die Energiewende-Ziele deutlich geschärft. Welche Baustellen sind für Sie die wichtigsten?
Olaf Lies: Wir müssen uns ganz klar um den Windsektor kümmern. Offshore hat großes Flächenpotenzial. Es könnte noch größer sein, wenn wir Flächen des Militärs, des Naturschutzes und vielleicht auch Verkehrswege einbeziehen und eine Ko-Nutzung ermöglichen. Entscheidend ist die Anbindung an die Küste, die optimiert werden muss. Wir wollen mit innovativen Multi-Terminals die Offshore-Anbindungsleitungen vernetzen und den Strom zum Teil gleich in der Region nutzen, um nur noch die wirklich nötigen Energiemengen in den Süden zu transportieren. Bei Wind an Land greifen zudem das Artenschutz- und Akzeptanzproblem ineinander, was zu sehr vielen Klagen führt. Das ist natürlich eine große Herausforderung.
ne: Und darüber hinaus?
Lies: Zweitens geht es noch immer um den Netzausbau. Für das Zielszenario 2045 spricht Robert Habeck ja von einem Klimaneutralitätsnetz. Es geht also darum, das maximal Nötige zu definieren und umzusetzen. Drittens müssen wir uns um die Photovoltaik kümmern. Eigentlich müsste jedes geeignete Dach mit PV-Modulen ausgestattet werden. Das brauchen wir für unsere Versorgung. Aber dafür braucht es attraktive Anreize.
ne: Sind Sie für eine Solarpflicht, vielleicht auch beim Gebäudebestand?
Lies: Beim Neubau kommen wir gar nicht daran vorbei. Zusätzlich gibt es zwei Wege, Anreize zu schaffen. Im Moment lohnt sich ein Solardach nur beim selbst verbrauchten Anteil der produzierten Energiemenge. Es wäre denkbar, dass auch Dritte die auf meinem Dach produzierte Energie nutzen. Alternativ müssten wir die Degression der Einspeisevergütung sofort beenden und diese im Gegenteil anheben, in einer Größenordnung von bis zu eineinhalb Cent je Kilowattstunde. Das ist auch eine geeignete Lösung für den Gebäudebestand.
ne: Mehr Tempo bei erneuerbaren Energien und Netzen, das ist ein altbekanntes Thema. Es ist aber seit Jahren zu wenig geschehen. Was sind die Hebel, damit es jetzt anders läuft?
Lies: Bleiben wir beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Dazu hat sich die Ampel-Koalition bekannt. Es ist das erklärte, politische Ziel von Minister Habeck, der die Regierungsfraktionen hinter sich hat. Zuvor war ja das Problem, dass es innerhalb der Bundesregierung von der CDU immer wieder Kämpfe gegen die benötigten Ausbaukorridore gegeben hat. Wind wurde kleingehalten, Solar unnötig gedeckelt. Das ist jetzt anders. Die Themen werden ernsthaft angepackt.
ne: Auch beim Netzausbau wurde längst nicht das eingelöst, was Ex-Minister Peter Altmaier in Aussicht gestellt hat ...
Lies: Richtig. Wir stehen vor der großen Herausforderung, das Netz intelligent zu bauen. Das wird aufwendig. Alle neuen und noch geplanten HGÜ-Trassen, bei denen das zeitlich sinnvoll machbar ist, müssen mit metallischen Rückleitern ausgestattet werden, damit man sie untereinander verschalten kann. Zudem, wenn wir etwa in der Nordsee zusätzlich 50 Gigawatt Offshore-Wind haben wollen, brauchen wir natürlich 25 Anbindungsleitungen mit je zwei Gigawatt Kapazität, die es effektiv auszunutzen gilt. Dazu müssen wir die Offshore-Windparks auch seeseitig vernetzen, auch über nationale Grenzen hinaus. Und wir müssen die nötigen Trassenkorridore zu den großen Verbrauchszentren schaffen. Das alles benötigt eine ganzheitliche Planung, die sich an einem Zielnetz orientiert. Und eine deutlich schnellere Umsetzung.
ne: Sie hatten auch das Problem der Akzeptanz angesprochen ...
Lies: Ich glaube, dass wir die Geschichte der Energiewende vollständig erzählen müssen. Derzeit erleben wir extrem gestiegene Energiepreise. Erneuerbare Energien eröffnen für uns die Chance, unabhängig von Dritten, von Importen zu werden. Das heißt, der Ausbau der Erneuerbaren wirkt preisdämpfend und auf Dauer stabilisierend. Zudem wird Wertschöpfung generiert, es werden Unternehmen angesiedelt. Wenn darüber hinaus die ländliche Region die ‚Produktionslast‘ tragen soll, dann müssen wir sämtliche Möglichkeiten nutzen, um die Kommunen und Bürger dort deutlich stärker zu beteiligen, die sich außerhalb der Ausschreibungen bieten. Dafür bietet sich die Umsetzung der De-Minimis-Regel im anstehenden Osterpaket zum EEG an, damit wären Projekte mit bis zu 18 Megawatt von Auktionen befreit.
ne: Derzeit wird argumentiert, dass die EEG-Umlage abgeschafft werden muss, weil die Verbraucherpreise steigen. Erinnert das nicht an die alte Anti-Energiewende-Rhetorik von den explodierenden Kosten?
Lies: Vielleicht zunächst zu den Verbraucherpreisen. Wir hatten zu Beginn des Winters halbleere Gaskavernen. Das ist wirklich unverantwortlich. Es muss klar sein, dass der Staat nicht mit einem derart großen Risiko der Abhängigkeit in einen Winter reingehen darf. Knappheit verursacht steigende Preise. Aber wir dürfen die Menschen letztlich auch nicht mit finanziellen Hilfen an Erdgas binden. Wir müssen Perspektiven aufmachen, zum Umstieg auf wirklich klimaneutrale Lösungen. Den Strompreis zu senken ist deshalb richtig. Und wenn wir die EEG-Umlage abschaffen, ist das ein guter Schritt. Es wird ja nicht die Vergütung für den Wind- und Solarstrom abgeschafft.
ne: Wird das reichen, um das Problem zu lösen?
Lies: Nein, es wird auch darum gehen, die Stromsteuer auf ein europäisches Mindestmaß zu bringen. Und da reden wir über die Einnahmesituation des Staates. Wenn es da eng wird, dürfte nach Alternativen gesucht werden, um den Haushalt zu entlasten. Damit das dann sozial gerechter ist, müssen die Lösungen sehr genau geprüft werden.
ne: Nur noch einmal, ist es korrekt, das Aus der EEG-Umlage mit den aktuell hohen Strompreisen in Verbindung zu bringen?
Lies: Tatsächlich sorgt der Umlagen-Mechanismus dafür, dass bei steigenden Börsenstrompreisen die EEG-Umlage sinkt. Wenn der Strompreis noch höher wäre, hätten wir automatisch keine EEG-Umlage mehr. Aber das zeigt ja auch, dass das System nicht gut funktioniert. Wäre der Strompreis in der letzten Zeit nicht drastisch gestiegen, wäre die EEG-Umlage von fünf, sechs Cent auf vielleicht zehn Cent gestiegen. Aber es stimmt, dass die Abschaffung der EEG-Umlage für die Verbraucher eine im Vergleich kleinere Wirkung entfalten wird. Wir werden bei dem Thema vielmehr auch über die Stromsteuer und die gezielte Entlastung einkommensschwächerer Haushalte sprechen müssen.
ne: Die gestiegenen Energiepreise scheinen gut dazu geeignet, die Energiewende-Debatte innerhalb der neuen Ampel-Koalition auf altbekannte Weise zu verzerren. Wie sehen Sie das aktuelle Zusammenspiel der Ministerien?
Lies: Ich glaube, dass es jetzt im Wirtschaftsministerium ein gut aufgestelltes Team und eine klare Linie gibt. Den Eindruck vermitteln auch die Fachpolitiker der Bundestagsfraktionen. Ich hoffe also, dass auch der Schulterschluss der Ressorts funktioniert. Das Verkehrsministerium muss beim Thema Offshore gesprächsbereit sein, das gleiche gilt für das Verteidigungsministerium und natürlich fürs Umweltministerium. Es gibt ein übergeordnetes Ziel, das ist der Klimaschutz. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir die Energiewende erfolgreich umsetzen. Dem müssen wir uns unterordnen. Anders als in der Vergangenheit, als in der CDU-Fraktion ständig versucht wurde, wichtige Maßnahmen auszubremsen. Das waren Blockadezeiten.
ne: Wir erleben im Moment eine Reorganisation der Energiewende-Ressorts und der nachgelagerten Behörden. Was ist dabei wichtig?
Lies: Die Bundesnetzagentur verfügt über hohe Kompetenz und sehr viel Erfahrung. Das müssen wir viel stärker nutzen. Da die neue Bundesregierung sich zu einer schnelleren und ambitionierteren Energiewende bekennt, kann die BNetzA über ihre Rolle einer Regulierungsbehörde hinaus ein echter Treiber und Motor für den konsequenten Ausbau der Energienetze und der erneuerbaren Energien werden. Zumal es auch mit Klaus Müller an der Behördenspitze einen Neuanfang gibt. Wie gesagt, wir gehen jetzt nicht mehr mit kleinen Schritten voran, sondern müssen das Zielszenario 2045 umsetzen.
ne: Unter dem Dach des BMWK arbeiten ja unterschiedlichste Institutionen an den Themen Klimaschutz und Energiewende. Neben der BNetzA sind da etwa das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle sowie die Dena. Zudem hat das BMWK Zugriff auf die Abteilung 5 des Umweltbundesamts, die unter anderem für den Emissionshandel zuständig ist. Wäre eine Bündelung der Kräfte nicht sinnvoll?
Lies: Wichtig ist, dass wir jetzt schnell in die Sacharbeit einsteigen. Dafür kann es helfen, bei bestimmten Fachaufsichten Veränderungen vorzunehmen. Am Anfang aber nur über Strukturen zu sprechen, dafür haben wir nicht die Zeit. Erst wenn die Arbeit gut angelaufen ist, sollte es darum gehen, wie wir die Strukturen nachhaltig verbessern können. Genau das war ja Gegenstand bei unseren Diskussionen zur Bundesnetzagentur und der Überlegung, den Teil der Telekommunikation möglicherweise abzuspalten. Da liegen aber nicht die zentralen Probleme der Energiewende. Organisatorische Veränderungen lenken oft von der eigentlichen Arbeit ab. Erst wenn wir die in Angriff genommen haben, können wir uns um die Strukturen kümmern, um noch besser zu werden.
ne: Bleibt die Aufteilung der BNetzA damit weiterhin ein Thema?
Lies: Es ist entscheidend, dass die vielen Aufgaben im Bereich Energie und Kommunikation zügig bearbeitet werden können. Und wir können uns jetzt nicht leisten, eine Umorganisation zu machen, die Entscheidungsprozesse hemmt. Aber klar bleibt, wir müssen effektiver in der Umsetzung werden. Themen wie Funklöcher, verzögerter Glasfaserausbau und stockende Energiewende müssen sehr schnell angegangen und gelöst werden.
ne: Wie sehen Sie die Rolle des Umweltministeriums?
Lies: Es geht darum, gemeinsam mit dem Umweltministerium Lösungen zu erarbeiten. Ich habe mich bereits mit Umweltministerin Steffi Lemke dazu unterhalten. Die Beobachtung ist ja, dass wir in Deutschland riesige Flächen haben, die nicht besiedelt sind. In Niedersachsen sind das 84 Prozent. Die können wir für besseren Artenschutz nutzen. Natürlich entstehen dabei Kosten, die Idee eines Hilfsfonds finde ich deshalb genau richtig. Vielleicht müssen wir aber auch das Bundesnaturschutzgesetz anpassen. Nur wie gesagt, wir wollen mehr für den Artenschutz tun und nicht etwa weniger. Ich denke, das kann in den Umweltverbänden zu mehr Akzeptanz führen, wenn es darum geht, für die Windenergie zwei Prozent der Flächen auszuweisen. Das wäre ein echtes Umdenken, weg von der Fokussierung auf ein Problem, hin zur Fokussierung auf eine echte Lösung.
ne: Was ist die Aufgabe der Bundesländer beim Klimaschutz-Tempo?
Lies: Um ehrlich zu sein, die eigentliche Arbeit wird in den Ländern geleistet. Wir müssen uns vor Ort den Debatten zum Ausbau der Netze, der Windenergie und der Photovoltaik stellen. Als Vorsitzender der Umweltministerkonferenz und der Landesenergieminister ist mir deshalb wichtig zu betonen, dass es nur eine Energiewende gibt – und nicht 17. Es geht darum, dass die Länder stringent mit dem Bund eine Linie verfolgen, in guter Abstimmung. Da liegt eine Menge Arbeit vor uns.
ne: An was denken Sie dabei?
Lies: Einigkeit besteht bei den Klimaschutzzielen. Aber es lastet ein hoher Druck auf den Ländern. Wir werden aktuell etwa bei den Klimazielen nicht am Erneuerbaren-Ausbau gemessen, sondern an unserer CO2-Bilanz. Nun hat zum Beispiel Niedersachsen kaum Kohlekraftwerke und im Vergleich zu anderen Ländern entsprechend wenig Emissionen. Deshalb können wir auch kaum reduzieren. In Baden-Württemberg oder Bayern ist das anders. Deshalb geht es mir etwas zu weit, wenn dort Kraftwerke abgeschaltet werden, der Kohlestrom mit Windstrom aus dem Norden ersetzt und dann erzählt wird, dass diese Länder große Leistungen für den Klimaschutz erbringen würden.
Dies ist eine gekürzte Fassung. Das vollständige Interview mit Olaf Lies lesen Sie in Ausgabe 3/2022 von neue energie.
Olaf Lies
ist Minister für Umwelt, Energie, Bauen und Klimaschutz des Landes Niedersachsen sowie Vorsitzender der Umweltministerkonferenz und des Beirats der Bundesnetzagentur.