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Story des Monats

Alte Munition bringt neue Offshore-Gefahren

Anne-Katrin Wehrmann, 01.07.14
Knapp 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs liegen auf dem Meeresgrund noch immer enorme Mengen an Kampfstoffen. Für die Offshore-Windbranche werden die zum Teil explosiven Altlasten zu einer echten Herausforderung.

„Die Wintersonne scheint. Die See ist ruhig. Dann plötzlich explodiert tief auf dem Meeresgrund eine Bombe. Der Druck lässt eine riesige Wasserfontäne entstehen. Sie ist vom Schiff Toisa Valiant aus deutlich am Horizont zu sehen. Dies ist kein Teil eines neuen Actionfilms, sondern passiert aktuell rund 35 Kilometer nördlich der Insel Helgoland im Baugebiet des Offshore-Windparks Nordsee Ost.“ Mit diesen Worten beginnt ein Eintrag im Offshore-Blog von RWE, der vom 14. Februar dieses Jahres datiert.

Mittlerweile hat das Unternehmen die Lokalisierung und Beseitigung von Munitionsaltlasten im Baufeld abgeschlossen. Das Ergebnis: 77 geräumte Kampfmittel, von denen 21 gleich an Ort und Stelle gesprengt werden mussten, weil ein Transport zur Vernichtung an Land zu gefährlich gewesen wäre – und Gesamtkosten für die insgesamt zwei Jahre dauernde Aktion „im unteren zweistelligen Millionenbereich“, wie „Nordsee Ost“-Projektdirektor Marcel Sunier von RWE Innogy sagt.

Bald 70 Jahre liegt das Ende des Zweiten Weltkriegs nun zurück, doch auf dem Grund der deutschen Nord- und Ostsee liegen noch immer bis zu 1,6 Millionen Tonnen konventionelle Kampfmittel – allein 1,3 Millionen Tonnen davon in der Nordsee. Hinzu kommt noch eine geringere Menge an chemischen Kampfmitteln. Das geht aus einem Bericht zur Munitionsbelastung der hiesigen Meeresgewässer hervor, den eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe Ende 2011 veröffentlicht hat. Dorthin gelangt sind die explosiven Stücke durch Übungen der Streitkräfte, Kriegshandlungen sowie die mehr oder weniger gezielten Versenkungen im Anschluss an die beiden Weltkriege.

Liste des Schreckens

Minen, Torpedos, Bomben, mit dem Nervengas Tabun gefüllte Artilleriegranaten: Es liest sich wie eine Liste des Schreckens, was die Fachleute da zusammengetragen haben. Zwar sei eine großräumige Gefährdung der marinen Umwelt über den lokalen Bereich der belasteten Flächen hinaus nicht zu erwarten, schreiben sie in ihrer Gesamtbewertung. Eine Gefährdung bestehe allerdings punktuell für Menschen, die in jenen Gebieten tätig seien.

Waren bislang vor allem Fischer betroffen, denen immer wieder einmal Munition ins Netz gegangen ist, muss sich jetzt die Offshore-Branche mit der Problematik auseinandersetzen. In der Fortschreibung ihres Berichts für das Jahr 2012 warnen die Verfasser, „dass heute nur ein geringer Teil der tatsächlich durch Kampfmittel belasteten Flächen bekannt ist und dass die Munitionsprobleme im Rahmen der Realisierung von Offshore-Projekten in zunehmendem Maße zu Tage treten werden“.

Belegt werde dies unter anderem durch einen Vergleich der Seekarten munitionsbelasteter Flächen aus dem Jahr 2011 mit aktuellen Katastern, erläutert Jens Sternheim vom Umweltministerium Schleswig-Holstein, einer der Autoren und Vorsitzender des Expertenkreises „Munition im Meer“ innerhalb des Bund-Länder-Ausschusses Nord- und Ostsee (BLANO). Damals seien verschiedene Gebiete aufgrund von Hinweisen als munitionsverdächtig eingetragen worden: „Nach jüngsten Erfahrungen findet man auf diesen Flächen Munition, sobald man danach sucht. Damit ändert sich deren Status auf munitionsbelastet.“ Darüber hinaus seien nunmehr Flächen bekannt, die zunächst noch gar nicht verdächtig gewesen seien, die sich inzwischen aber ebenfalls als belastet erwiesen hätten.

Riffgat: Fast 30 Tonnen Munition

Angesichts der jüngsten Entdeckungen findet das Thema sowohl bei den betroffenen Unternehmen der Offshore-Branche als auch in der öffentlichen Wahrnehmung zunehmend mehr Beachtung. Deutlich wird dies unter anderem anhand einer Google-Suche: Wer vor zwei Jahren nach der Kombination „Energiewende+Munition+im+Meer“ suchte, bekam knapp 30.000 Treffer angezeigt – heute sind es schon fast zehnmal so viele. Dazu beigetragen haben dürften die Schlagzeilen rund um den Netzanschluss des Offshore-Windparks „Riffgat“. Als Energieversorger und Betreiber EWE im Juli vorigen Jahres die Installation der letzten von insgesamt 30 Windkraftanlagen im niedersächsischen Küstenmeer verkündete, dauerte es noch mehr als ein halbes Jahr, bis Übertragungsnetzbetreiber Tennet auch deren Anbindung ans Stromnetz fertigstellen konnte.

Grund für die Verzögerung war eine unerwartet hohe Anzahl von Munitionsresten in der Kabeltrasse, deren Bergung sich wegen der schwierigen Strömungs- und Sichtverhältnisse im Wattenmeer als sehr aufwendig erwies. Statt der ursprünglich kalkulierten zwei Monate wurden letztlich rund anderthalb Jahre für die Aktion benötigt, aus den in einer ersten Untersuchung festgestellten vier metallischen Objekten im Meeresboden wurden in einer zweiten Sondierung schon mehr als 1400. Am Ende hatten die von Tennet engagierten Spezialisten fast 30 Tonnen Munition geborgen. Die Kosten für die Munitionsräumung beziffert der Übertragungsnetzbetreiber auf 57 Millionen Euro, hinzu kommen nach Unternehmensangaben weitere 43 Millionen Euro für die Verzögerung im Projekt, also etwa Entschädigungszahlen an EWE.

Nur eine Frage der Zeit, bis es knallt

Zwar war bereits im Vorfeld bekannt gewesen, dass die Kabeltrasse zwischen Borkum und Juist an einer Stelle vorbeiführen würde, an der nach Kriegsende deutsche Munition entsorgt wurde. Im Verlauf des Einsatzes wurde dann allerdings deutlich, dass das Verklappungsgebiet in den Karten kleiner eingezeichnet war, als es sich tatsächlich darstellte. Das berichtet Jan Kölbel, Technischer Leiter Offshore der von Tennet beauftragten Heinrich Hirdes EOD Services GmbH. Zum einen liege das an der durch die Gezeiten verursachten ständigen Bewegung. „Noch problematischer ist allerdings, dass damals ein Teil der Ladung schon auf dem Weg zu den Versenkungsstellen über Bord geworfen wurde“, erläutert der Kampfmittelbeseitiger.

Auch Kölbel hat festgestellt, dass bei Planern und Betreibern von Meereswindparks zuletzt das Bewusstsein für die Problematik gewachsen ist. Was aus seiner Sicht allerdings fehlt, sind einheitliche Regelungen der zuständigen Behörden. Momentan ist es so, dass die von den Bauherren engagierten privaten Kampfmittelräumer die geborgene Altmunition an die zuständigen Bundesländer übergeben, sofern sie innerhalb der Zwölf-Seemeilen-Zone gefunden wurde. Bei notwendigen Sprengungen übernimmt hier der Kampfmittelräumdienst des jeweiligen Landes das Kommando.

Werden hingegen weiter draußen in der ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ), die kein deutsches Hoheitsgebiet mehr ist und in der die meisten Windparks entstehen, nicht-transportsichere Sprengkörper entdeckt, sind die Privatunternehmen für deren Zerstörung an Ort und Stelle verantwortlich. Auch bei der Vernichtung von dort geborgenen transportfähigen Kampfmitteln wird es problematisch: Kein Bundesland ist verpflichtet, die Altlasten anzunehmen und sicher zu zerlegen. Zwar zeigten sich die öffentlichen Kampfmittelräumdienste sehr kooperativ, sagt Kölbel, und bisher sei auch immer eine Lösung gefunden worden: „Aber für uns ist das jedes Mal eine Gratwanderung, da wäre schon ein strategisches Gesamtkonzept wichtig.“ So lange es das nicht gebe, sei es vermutlich nur eine Frage der Zeit, „bis es da draußen mal richtig knallt“.

Verzögerungen sind vorprogrammiert

Dass nicht nur in Küstennähe, sondern eben auch in der AWZ mit Munitionsfunden zu rechnen ist, macht neben dem eingangs erwähnten RWE-Projekt „Nordsee Ost“ auch der benachbarte Windpark „Meerwind Süd|Ost“ des Betreibers WindMW deutlich. Insgesamt lag die Zahl der Kampfmittel, die dort geräumt beziehungsweise gesprengt werden mussten, nach Angaben von Geschäftsführer Jens Assheuer im dreistelligen Bereich. Größte Entdeckung war eine 300 Kilogramm schwere Fliegerbombe. Die Funde belegten die aus der Arbeit des Expertenkreises „Munition im Meer“ gewonnenen Hinweise auf ein dortiges Notabwurf-Gebiet für Bomben, erläutert dessen Vorsitzender Jens Sternheim. In den Genehmigungsbescheiden des zuständigen Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) findet sich zu der explosiven Thematik lediglich ein Satz. Die Bauherren von Offshore-Windparks seien sowohl für die Ermittlung und Erkundung vorhandener Kampfmittel als auch für alle daraus resultierenden Schutzmaßnahmen verantwortlich, heißt es dort.

„Da macht es sich der Staat schon etwas einfach“, kritisiert RWE-Projektdirektor Marcel Sunier. „Die Gegend da draußen ist ziemlich verseucht: Aus unserer Sicht müsste die Kampfmittelräumung dort in staatlicher Zuständigkeit sein, wie das ja auch im Küstenmeer und an Land der Fall ist.“ Im Baufeld von „Nordsee Ost“ sei man auf viel mehr und viel größere Objekte gestoßen als ursprünglich erwartet und habe entsprechend auch deutlich länger gebraucht als geplant. „Aber letztlich sind wir für Leib und Leben unserer Mitarbeiter verantwortlich und haben darum sehr genau und sehr großflächig gesucht“, sagt Sunier.

Um die einzelnen Fundamente herum seien Flächen mit einem Durchmesser von jeweils 500 Metern sondiert worden, um die parkinterne Umspannplattform herum sogar ein zehnmal so großes Gebiet. Er gehe davon aus, dass es beim weiteren Ausbau der Offshore-Windenergie auch künftig zu Verzögerungen durch Munitionsfunde kommen könne. „Und Zeit ist Geld“, betont der Projektdirektor. „Für Investoren ist es natürlich nicht so attraktiv, wenn sie dafür noch mehrere Millionen Euro extra ausgeben müssen.“ Schwierig sei zudem, dass es in diesem Bereich keinerlei Standards gebe: Als Betreiber eines Offshore-Windparks sei man relativ frei darin, wie man die Kampfmittelsuche im Detail gestalte. Sunier: „Das hängt ganz von der jeweiligen Risikobereitschaft ab, und die ist bei uns extrem gering.“

Weit draußen auf dem Meer ist der Betreiber allein verantwortlich

Ungeachtet der Kritik aus der Branche hält das Bundesverkehrsministerium, dem das BSH zugeordnet ist, die Sache für hinreichend geregelt. „Jeder Bauherr hat die Verantwortung dafür, dass von seiner Baustelle keine Gefahren ausgehen“, teilt ein Sprecher mit. „Diese Verantwortung kann ihm niemand abnehmen.“ Der maßgebliche Unterschied zur Situation an Land bestehe darin, dass Kampfmittel an Land regelmäßig auch ein hohes Risiko für unbeteiligte Menschen und Sachgüter Dritter darstellten, weswegen eine erhöhte staatliche Aufsicht sowie eine Bergung unter sachkundiger Kontrolle und Überwachung erforderlich seien. „Dieses Risiko ist weit draußen auf dem Meer nicht vergleichbar“, so der Sprecher. Unabhängig davon würden bei der Errichtung von Offshore-Windparks und der Verlegung von Kabeln hochwertige Anlagen und Güter eingesetzt, „so dass es im eigenen Interesse des Betreibers liegt, Gefährdungen durch Kampfmittel zu vermeiden“.

Diese Unterscheidung zwischen Land, Küstenmeer und AWZ hält WindMW-Geschäftsführer Jens Assheuer für nicht gerechtfertigt. Rund neun Millionen Euro hat es sein Unternehmen gekostet, den Meeresboden rund um die Anlagen des Windparks „Meerwind Süd|Ost“ von Munitionsaltlasten zu befreien – auch hier kamen letztlich deutlich mehr Funde zutage als zunächst angenommen. „Es mag ja noch angehen, wenn die AWZ als Sonderzone gewertet wird, in der andere Regeln gelten“, meint Assheuer. „Aber in dem Moment, wo der Staat hier Steuern wie zum Beispiel Gewerbe-, Umsatz- und Versicherungssteuern erhebt, muss er auch seiner Aufgabe gerecht werden und die Infrastruktur bereitstellen.“ Die Netzbetreiber hätten im Gegensatz zu den Windparkbetreibern immerhin noch den Vorteil, dass sie die für die Kampfmittelräumung anfallenden Kosten an die Stromkunden weiterreichen könnten.

Funde werden seit 2013 zentral erfasst

Eine Änderung der Zuständigkeiten ist aktuell allerdings nicht in Sicht. Auch der BLANO-Expertenkreis hält sich in dieser Frage bedeckt: Vorsitzender Sternheim teilt dazu lediglich mit, dass man unter Berücksichtigung „der derzeitigen funktionierenden Zuständigkeiten“ arbeite. Der Expertenkreis habe in der Vergangenheit Anregungen zur Verbesserung gegeben und werde dies bei Bedarf auch weiter tun. Eine dieser Anregungen aus dem Bericht von 2011 war es, eine nationale Meldestelle zu schaffen, da Informationen zu „relevanten Ereignissen“ sowie deren geeignete Aufbereitung die Grundlage eines vollständigen Lagebilds zur Munition im Meer seien. Dieser Vorschlag ist mittlerweile umgesetzt. Die Wasserschutzpolizei-Leitstelle innerhalb des Maritimen Sicherheitszentrums in Cuxhaven erfasst seit Anfang 2013 zentral alle eingehenden Meldungen und dokumentiert sie einheitlich.

„Das hat sich sehr positiv entwickelt, auch die Betreiber von Offshore-Windparks teilen uns jetzt ihre Funde und die jeweiligen Räumungskonzepte mit“, berichtet Leitstellenchef Hartmut Neumann. Im vergangenen Jahr habe es 148 Meldungen gegeben, darunter 24 aus der AWZ; 20 davon seien auf Sondierungsarbeiten in Offshore-Baufeldern zurückzuführen gewesen. Von den in diesem Jahr bis Mitte Juni gemeldeten 31 Funden in der AWZ stünden sogar alle im Zusammenhang mit dem Ausbau der Offshore-Windenergie. Angesichts dieser Zahlen liegt die Vermutung nahe, dass das Thema die Offshore-Branche so schnell nicht wieder loslassen wird.

 

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