Atomausstieg

Überflüssige Laufzeitverlängerung

Joachim Wille, 19.04.23
Auswertungen im Auftrag atomkritischer Organisationen zeigen, dass es kaum einen Effekt hatte, die Abschaltung der letzten deutschen Atomreaktoren über den Winter aufzuschieben. Jetzt da die AKW vom Netz sind, steht die Ausgestaltung des künftigen Stromsystems im Fokus.

Die Angst vor einem Blackout wegen der von Putin ausgelösten Energiekrise war groß – vor allem bei der FDP und der Opposition. Auf Druck der Lindner-Partei beschloss die Ampel-Bundesregierung im letzten Herbst, die Abschaltung der letzten drei Atomkraftwerke von Ende Dezember auf Mittel April zu verschieben. Die Reaktoren liefen dafür im „Streckbetrieb“. Aktuelle Analysen zeigen nun: Die Stromversorgung wäre auch ohne die drei AKW sicher gewesen, der Klimaschutz profitierte nur minimal, und der dämpfende Einfluss der Laufzeitverlängerungen auf die Strompreise fiel gering aus. Nun kommt es darauf an, das Elektrizitätssystem umzubauen, um eine schnelle CO2-Reduktion bei tragbaren Kosten zu erreichen. 

Die Versorgungssicherheit ist auch nach dem endgültigen Ausstieg am 15. April gewährleistet. „Es steht genügend gesicherte Kraftwerksleistung aus anderen Anlagen bereit, um die Stromnachfrage auch nach der Abschaltung der Atomkraftwerke zu decken“, heißt es dazu bei der Bundesnetzagentur. Laut dem Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) hatten die drei AKW Emsland (Niedersachsen), Neckarwestheim II (Baden-Württemberg) und Isar II (Bayern) während des Streckbetriebs von Januar bis Mitte April einen Anteil an der Stromerzeugung von 4,5 Prozent, etwa ein Drittel weniger als im Schnitt im Gesamtjahr 2022. Zu Hochzeiten der Atomstrom-Produktion hierzulande, Ende der 1990er Jahre, waren es rund 35 Prozent gewesen.      

Eine Studie des Berliner Analyse-Instituts Enervis zeigt, dass die drei Reaktoren von November, als der Streckbetrieb bereits lief, bis zum April rund 12,2 Terawattstunden Strom produzierten. Da im Gegenzug Erdgas-Kraftwerke gedrosselt wurden, sparte das Erdgas ein, allerdings nur 2,2 Terawattstunden, was etwa 0,3 Prozent des bundesweiten Gasverbrauchs entspricht. „Die ohnehin gedrosselte Stromerzeugung der drei Reaktoren hätte zu jeder Zeit durch verfügbare Gaskraftwerke ersetzt werden können“, kommentierte Studienleiter Tim Höfer. Auftraggeber der Studie waren die Ökoenergie-Genossenschaft Green Planet Energy und die Umweltorganisation Greenpeace.

Stabile Strompreise

Der dämpfende Einfluss auf den CO2-Ausstoß und die Strompreise fiel laut der Analyse ebenfalls eher gering aus. Die wegen des AKW-Betriebs gedrosselte Erdgas- und Kohleverstromung senkte den CO2-Aussstoß um 1,5 Millionen Tonnen, was 0,2 Prozent der deutschen Gesamtemissionen ausmacht, die 2022 rund 746 Millionen Tonnen betrugen. Die Strompreise sanken unterdessen 2023 um 2,10 Euro pro Megawattstunde (MWh), wobei der durchschnittliche Preis 2022 bei 235 Euro/MWh gelegen hatte – also um weniger als ein Prozent.

Befürchtungen, dass die AKW-Abschaltung nun die Strompreise an der Börse und bei Haushaltskunden erhöht, haben sich auch nicht bewahrheitet. Preisanstiege an den Märkten seien weder im Großhandel noch für die Haushalte erkennbar, heißt es dazu bei der Verbraucherzentrale NRW. Strom sei bereits für die kommenden Wochen und Monate gehandelt worden, und die Marktakteure hätten sich schon „auf die neue Situation eingestellt“. Die Strompreise für Haushaltskunden, die einen neuen Tarif abschließen wollen, sind aktuell deutlich gesunken. Es gibt Stromtarife ab rund 32 Cent pro Kilowattstunde plus Grundpreis. Zu Hochzeiten der Gaskrise lagen sie bei über 50 Cent. Das Vergleichsportal Check 24 erwartet „weiterhin eine positive Entwicklung der Strompreise“.

Die Enervis-Studie wie auch eine weitere Analyse der atomkritischen Organisationen „ausgestrahlt“ und „Deutsche Umwelthilfe“ zeigen zudem, dass die Laufzeitverlängerung zu einem höheren Elektrizitätsexport in die Nachbarländer führte. Ein Hauptabnehmer war dabei Frankreich, wo wegen des Stillstands zahlreicher AKW Stromknappheit herrscht. Gründe sind dort vor allem Sicherheitsprobleme der alternden Reaktorflotte.

Alternativen zum Erdgas

Carolin Dähling von Green Planet Energy sagte: „Rückblickend hätte die Bundesregierung die Reaktoren wie geplant vom Netz nehmen sollen.“ Erneuerbare Energien, Energiesparmaßnahmen und die Flexibilität im Stromnetz hätten im Winter deutlich mehr geholfen als die drei AKW. Greenpeace-Experte Heinz Smital kritisierte Forderungen nach erneuten Laufzeitverlängerungen. Sie seien „unseriös und sogar gefährlich“. Atomreaktoren beinhalteten hohe Risiken, die durch militärische Auseinandersetzungen in Europa sogar noch anstiegen. Die FDP hatte noch kurz vor dem Ausstieg gefordert, die drei Reaktoren weiterhin betriebsbereit zuhalten, die Union plädierte für Laufzeitverlängerungen bis Ende 2024.

Umstritten ist unter Lobbyverbänden und Experten, wie das Stromsystem umgebaut werden muss, um Stromverfügbarkeit auch bei einem auf 2030 vorgezogenen Kohleausstieg zu garantieren, wie er von der Bundesregierung aus Klimagründen, laut Koalitionsvertrag „idealerweise“, angepeilt wird. Der BDEW fordert mehr Tempo beim Bau neuer Erdgas-Kraftwerke, die allerdings „wasserstofffähig“ (H2-ready) sein sollen. Sie seien nötig, „um die Versorgungssicherheit jederzeit gewährleisten zu können“, sagte BDEW-Chefin Kerstin Andreae. Die Gasanlagen lieferten „gesicherte, regelbare Leistung als Partner der erneuerbaren Energien“. Könnten sie nicht rechtzeitig in Betrieb gehen, werde das hohe CO2-Emissionen zur Folge haben, da dann Kohlekraftwerke länger laufen müssten.

Der Bundesverband Erneuerbare Energien (BEE) hingegen warnt vor neuen „fossilen Gasbrücken“ mit der „Irgendwann-H2-ready-Option“. Diese seien unnötig und kontraproduktiv. Der BEE plädiert für eine andere Strategie, um das fluktuierende Angebot von Solar- und Windkraft auszugleichen. BBE-Präsidentin Simone Peter sagte: „Mit dem Einstieg ins post-atomare Zeitalter muss auch das post-fossile Zeitalter entschieden vorangetrieben werden.“  Der Ausbau der erneuerbaren Energien müsse beschleunigt und das Energiesystem auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet werden.

Laut Peter braucht die fluktuierende regionale Stromerzeugung aus Sonnen- und Windenergie als Ergänzung statt zentraler Großkraftwerke „ein flexibles und dezentrales Back-up“ mit Speichern, grüner Kraft-Wärme-Kopplung und mehr Flexibilität bei den Stromverbrauchern. Zudem müsse die Politik Anreize setzen für mehr Flexibilität bei Wasserkraft und Geothermie, die kontinuierlich Energie liefern, beziehungsweise für Bioenergie, die etwa in Form von Biogas speicherbar ist.

 

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