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Atomkraft in Europa

Mürbe Meiler?

Bernward Janzing, 12.05.16
Viele Atomkraftwerke in Europa sind mittlerweile älter als 40 Jahre – ein Problem. Denn bislang weiß niemand genau, wie sich sicherheitsrelevante Bauteile im Laufe der Zeit verändern.

Im Kongresshaus von Zürich steht an diesem Frühjahrstag ein alter Opel Kadett B. Daneben ist in großen Lettern geschrieben: „Opel Beznau – Serie 1969“. Die Schweizerische Energie-Stiftung hat das Schrottauto im Saal platziert, während vorne auf dem Podium die Risiken diskutiert werden, die speziell von alternden Atomreaktoren ausgehen.  Die Rostlaube auf dem Parkettboden ist Blickfang und Warnung zugleich. Sie stammt nämlich aus demselben Jahr, wie der Reaktorblock 1 des Kraftwerks Beznau im schweizerischen Kanton Aargau. Mit 47 Jahren ist der Meiler das älteste Atomkraftwerk der Welt – was man seinen Komponenten auch anmerkt. „Technikmuseum Beznau“ spotten Kritiker.

Kaum ein Reaktor ist besser geeignet, die Probleme alternder Nukleartechnik zu dokumentieren, als das Kraftwerk an der Aare: Seit nunmehr einem Jahr ist es wegen erheblicher Materialschäden außer Betrieb. Seit jenem Moment nämlich, als man erstmals mit einer neuen Ultraschalltechnik den Reaktordruckbehälter untersuchte und dabei in dem Material wahlweise „Unregelmäßigkeiten“ (wie es der Betreiberkonzern Axpo formuliert) oder aber „Löcher“ (wie Greenpeace schreibt) fand. Die Umweltorganisation reagierte mit einer Fotomontage, die den Reaktor als Emmentaler Käse zeigt. 

Unklar ist, woher die Schäden stammen. Vielleicht entstanden die Defekte im Material teilweise bereits bei der Fertigung des Stahlbehälters und man hat sie mangels geeigneter Analysetechniken zuvor nie entdeckt. Das hieße: Es wäre geboten weltweit alle Reaktoren untersuchen, die einen ähnlich antiquierten  Druckbehälter aus derselben Schmiede des französischen Atomkonzerns Areva nutzen. Denkbar wäre aber auch, dass die Schäden erst im Betrieb durch den ständigen Neutronenbeschuss aufgetreten sind. Das wäre dann ein Indiz dafür, dass Laufzeiten von bis zu 60 Jahren, von denen die Atomwirtschaft träumt, noch riskanter sind, als Kritiker ohnehin immer vermuteten. Axpo will den Block 1 in Beznau dennoch Ende des Jahres wieder hochfahren.

Die Betreiberfirma würde gerne die Zeitspanne von 60 Jahren voll ausreizen, bis 2029 also. Das wäre jedoch hochriskant. Denn niemand weiß, wie lange der Reaktordruckbehälter noch durchhält; er ist Baujahr 1966, stammt demnach aus einer Zeit, als die Materialwissenschaft noch in den Anfängen steckte. Der Direktor der Schweizer Atomaufsicht Ensi, Hans Wanner, gesteht ein, dass die Versprödung eines Teils des Druckbehälters („Ring C“) schon sehr weit fortgeschritten ist. Die vorgeschriebenen Materialkennwerte würden allerdings dennoch erreicht – so gerade eben.

Belgien verteilt Jodtabletten

Das Problem dabei, das viele Kenner der Materie beunruhigt: Selbst wenn Komponenten formal noch den technischen Regeln genügen, die nationale Atomaufsicht daher den Reaktor als sicher einstufen muss, hat das mit realer Sicherheit wenig zu tun. „Die Beton- und Stahlstrukturen der Reaktoren verlieren im Laufe der Jahrzehnte Sicherheitsmargen“, sagt Yves Marignac, Direktor von WISE-Paris, dem World Information Service on Energy. In welchem Maße das geschehe, sei unklar. Schließlich gebe es weltweit keine Erfahrung mit Reaktoren, die länger laufen als die Anlage in Beznau.

Entsprechend warnte der ehemalige technische Leiter der deutschen Atomaufsicht Dieter Majer bereits 2014, dass die Alterung technischer Anlagen meist unterschätzt werde: „Mit wenigen Ausnahmen vollziehen sich die Alterungsprozesse auf der Ebene der mikroskopischen Gitterstruktur.“ Die Veränderungen der mechanischen Eigenschaften eines Werkstoffs seien „häufig nicht zerstörungsfrei prüfbar“, wodurch die Schwäche des Werkstoffs oft „erst nach dessen Versagen, zum Beispiel beim Bruch, erkenntlich“ werde. Speziell die Materialeigenschaften der jahrelang bestrahlten Reaktordruckbehälter könnten „nur begrenzt beurteilt werden“.

Die altersbedingte Störanfälligkeit der Meiler hat dazu beigetragen, dass Europa im Jahr 2015 so wenig Atomstrom erzeugte wie zuletzt 1994. Verantwortlich dafür sind vor allem Belgien und die Schweiz, deren Atomstromproduktion im vergangenen Jahr um 23 beziehungsweise 16 Prozent niedriger lag als 2014. Auch in Schweden brach die Stromerzeugung der zum Teil über 40 Jahre alten Meiler um fast 13 Prozent ein. So positiv Atomkraftgegner diesen Rückgang grundsätzlich sehen mögen – seine Ursachen sind besorgniserregend.

In Belgien, wo an den Standorten Tihange und Doel insgesamt sieben Reaktoren stehen, sind die technischen Probleme der AKW unverkennbar. In den vergangenen Monaten gab es dort ein ständiges Hin und Her zwischen Wiederinbetriebnahme und störfallbedingter Abschaltung. Wegen der verbundenen Risiken klagt die Städteregion Aachen bereits vor dem höchsten belgischen Verwaltungsgericht gegen die Reaktoren in Tihange. Ende April wurde bekannt, dass die belgische Regierung an die gesamte Bevölkerung Jodtabletten verteilen will. Damit soll bei einem Atomunfall zumindest die Aufnahme radioaktiven Jods in die Schilddrüse verhindert werden. „Jodtabletten schützen etwa so gut vor einem Reaktorunfall, wie ein Cocktailschirmchen vor einem Wolkenbruch“, kommentierte der deutsche Greenpeace-Experte Heinz Smital.

Atomaufseher warnt vor Druck durch Betreiber

In Frankreich, wo die Hälfte des europäischen Atomstroms erzeugt wird, blieb die Produktion im vergangenen Jahr trotz der zahlreichen alten Meiler praktisch unverändert. Deshalb davon auszugehen, dass der Betrieb stets ordnungsgemäß verlief, wäre jedoch naiv: Erst vor wenigen Wochen wurde das volle Ausmaß eines Störfalls im Reaktor Fessenheim von April 2014 bekannt. Nach einem Wassereinbruch scheiterte damals der Versuch, den Reaktor planmäßig herunterzufahren; die Steuerstäbe ließen sich nicht mehr bewegen. Nur eine Notborierung – die Zugabe von Bor in den Reaktorbehälter, ein ausgesprochen seltener Eingriff – konnte die nukleare Kettenreaktion noch stoppen. Dass ausgerechnet Fessenheim nun wieder in die Schlagzeilen gerät, passt ins Schema: Der Reaktor ist das älteste laufende Atomkraftwerk Frankreichs. Ob der abrupte Stopp neuerliche Materialschädigungen bewirkt hat, können Experten kaum abschätzen. Denn auch mit der Notborierung haben Kerntechniker bisher wenig Erfahrung gesammelt.

Was also tun mit den Altreaktoren? Um sie auf das Sicherheitsniveau von Neubauten zu bringen, wären pro Block Milliardeninvestitionen nötig, rechnet Reaktorexperte Marignac vor. Die EU-Kommission prognostiziert dementsprechend, dass bis zum Jahr 2050 in Europa Investitionen in Höhe von 450 bis 500 Milliarden Euro notwendig seien, wollte man die Atomkraft im bisherigen Stil weiter nutzen. Für die Betreiber der Kraftwerke ist das betriebswirtschaftlich in der Regel nicht rentabel. Und so haben nun einige von ihnen angekündigt, Reaktoren abzuschalten – allerdings erst in den nächsten Jahren, womit das Sicherheitsrisiko der Anlagen zunächst noch zunehmen dürfte. Auf der Abschaltliste stehen zum Beispiel der Schweizer Reaktor Mühleberg, der 2019 vom Netz gehen soll, sowie jeweils zwei Uraltblöcke in Oskarshamn und Ringhals in Schweden, deren Ende zwischen 2017 und 2020 terminiert ist.

Abgesehen von den Kosten ist es bei vielen Meilern auch technisch unmöglich, das Sicherheitsniveau von Neubauten zu erreichen, wie der ehemalige Atomaufseher Majer weiß: Im Rahmen einer Studie hat er festgestellt: Die alten Reaktoren der Schweiz (Mühleberg, Beznau I und II) sind auch mit aufwendigen Nachrüstungen nicht auf den heutigen Stand von Wissenschaft und Technik zu bringen. Das liegt unter anderem daran, dass besonders wichtige und kritische Komponenten wie der Reaktordruckbehälter und der Reaktorsicherheitsbehälter gar nicht ausgetauscht werden können. Bei anderen Großkomponenten, bis hin zum Dampferzeuger, ist das zwar prinzipiell möglich, wäre aber mit enormen Kosten und auch Risiken verbunden. Zumal man immer wieder feststelle, so Majer, dass „die Kombination von alter Technik des letzten Jahrhunderts und moderner Technik neue bisher unbekannte Probleme aufwirft“.

Damit stehen die Atomaufsichtsbehörden der Länder, die diese Anlagen bewerten müssen, vor großen Herausforderungen. Zum einen sehen sie sich schlicht mit Informationsdefiziten konfrontiert, weil es ihnen an Erfahrung mit alten Anlagen fehlt. Zum anderen müsse die Aufsichtsbehörde „zusehends mit Druck von der KKW-freundlichen Seite rechnen“, warnt der oberste Atomkraft-Aufseher der Schweiz, Hans Wanner. Denn die Atomkonzerne sind allesamt wirtschaftlich angeschlagen. Wenn nun Forderungen nach teuren Nachrüstungen den Weiterbetrieb einer Anlage ökonomisch in Frage stellen, könne das „die Aufsicht in heikle Situationen führen“.

 

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