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Atomenergie

„Putin bringt die nukleare Dimension in diesen Krieg hinein“

Interview: Jörg-Rainer Zimmermann, 04.03.22
… sagt der Journalist und Energie-Experte Jürgen Döschner (WDR). Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine wurde dort das größte Kernkraftwerk Europas unter Beschuss genommen. Der UN-Kontrollinstanz IAEA wirft Döschner nun Versagen vor – die Internationale Atomenergie Agentur habe zu spät reagiert.

neue energie: Herr Döschner, Sie waren lange Jahre in Moskau als Korrespondent, haben die Ukraine besucht, kennen Tschernobyl aus eigener Anschauung. Heute Nacht (3. auf 4. März) wurde in der Ukraine das größte europäische Atomkraftwerk Saporischschja von der russischen Armee unter Beschuss genommen, auf dem Gelände brach ein Feuer aus. Welches Risiko ist Ihrer Einschätzung nach mit dem Angriff verbunden?

Jürgen Döschner: Vor acht Jahren habe ich auch den jetzt attackierten Meiler besucht, als ich das erste Mal zum Risiko von Kampfhandlungen in der Nähe von Atomkraftwerken recherchierte. Damals, 2014, gab es ja den ersten Überfall russischer Truppen auf den Osten der Ukraine. Unter anderem habe ich in Kiew mit dem damaligen Chef der ukrainischen Atomaufsicht gesprochen. Er erklärte, dass kein Atomkraftwerk der Welt gegen militärische Angriffe gesichert sei. Und sein Stellvertreter sagte wörtlich ‚Ein konventioneller Krieg in einem Land mit Atomkraftwerken wird nach einer gewissen Zeit zwangsläufig auch zu einem nuklearen Krieg.‘ Diese Dimension hat Putin jetzt mit direkten Angriffen auf Saporischschja eröffnet.

ne: Präsident Selenskyi meinte, dass bei einer Explosion das Ende Europas bevorstünde. Ist das übertrieben?

Döschner: Vielleicht. Aber ein kleiner Anhaltspunkt ist das, was 1986 in Tschernobyl passiert ist. Aufgrund der Wetterlage gab es in weiten Teilen von Westeuropa einen Eintrag von radioaktiven Partikeln. In Tschernobyl, das ja nun auch von russischen Truppen besetzt wurde, lagern gegenwärtig mehr als 20.000 abgebrannte Brennelemente aus den drei Reaktoren, die vor einigen Jahren stillgelegt worden sind. Das ist ein radioaktives Inventar, das die Bestände von 1986 um ein Zigfaches übertrifft. Ähnlich ist es mit den Mengen radioaktiven Materials, die bei den sechs Reaktoren in Saporischschja liegen. Diese Brennstäbe müssen ständig kontrolliert, gekühlt und das Wasser mit Chemikalien versetzt werden.

ne: Diese Arbeiten werden jetzt behindert ...

Döschner: Die technischen Mannschaften in Tschernobyl sind seit mehreren Tagen nicht mehr ausgewechselt worden. Und so scheint es sich jetzt auch bei diesem Atomkraftwerk im Osten der Ukraine zu entwickeln. Die Menschen dort arbeiten durch die Besetzung unter einem wahnsinnigen psychischen Druck. Zudem bekommen sie nicht genügend Schlaf. Sie werden nicht mehr wie sonst nach zwölf Stunden ausgetauscht. Das kann auch zu Fehlern führen. Also, die Risikopalette ist ganz breit. Und das in einem technischen Bereich, der hochsensibel ist. Wenn man bedenkt, die Katastrophe in Fukushima fing – vereinfacht gesagt – damit an, dass ein Strommast umgekippt ist. Dann wurden zusätzlich die Notstromaggregate durch den Tsunami getroffen. Ein ähnlicher Ablauf ist auch in Saporischschja denkbar. Bei den Kämpfen müssten nur die Treibstoffbehälter für die Notstromaggregate getroffen werden, dann würde das Szenario, das in einer Kernschmelze endet, sehr realistisch werden. Und das im Herzen von Europa.

ne: Hilft es, die Reaktoren runterzufahren, um die aktuellen Risiken zu minimieren?

Döschner: Die Möglichkeiten, solche Anlagen zu schützen und vorsorglich zu sichern, sind sehr, sehr begrenzt. Aus der Ukraine hieß es noch vor Ausbruch des Kriegs, dass die Reaktoren heruntergefahren und die Brennstäbe aus dem Kern heraus genommen werden. Auch sollten die Vorräte an Treibstoff für die Notstromaggregate erhöht werden. Aber wie gesagt, auch ein Atomkraftwerk, bei dem die Brennelemente herausgeholt wurden, stellt ein enormes Risiko dar, weil diese Brennelemente gekühlt und dann über längere Zeit technisch behandelt werden müssen. Wenn es dann um den Meiler oder auf dessen Gelände zu Kampfhandlungen kommt, kann das schnell zu einer Katastrophe führen.  

ne: Noch gestern Abend (3. März) hatten Sie bei einem Treffen des Netzwerks Klimajournalismus* die Vermutung geäußert, dass die Russen niemals gezielt ein Atomkraftwerk beschießen würden. Jetzt ist es anders gekommen. Wie interpretieren Sie diese Eskalation?

Döschner: Ja, eigentlich bin ich sprach- und ratlos. Es macht militärisch gar keinen Sinn, ein Atomkraftwerk anzugreifen. Die Folgen, sollte es zu einer Katastrophe kommen, würde auch Russland spüren. Das ist ja nicht auf ein Land zu begrenzen, wenn Radioaktivität freigesetzt wird. Wenn man nur vorgehabt hätte, im Rahmen irgendeiner ‚Kriegsstrategie‘ die Stromversorgung zu unterbrechen, um damit den Gegner zu schwächen, dann hätte es gereicht, die Leitungen zu kappen, die vom Atomkraftwerk wegführen. Das wäre gar kein Problem gewesen. Welche Strategie, Idee oder Ideologie dahintersteht, dass ein solcher Angriff genehmigt worden ist, kann ich nicht nachvollziehen. Aber es ist hochgradig gefährlich. Putin bringt damit die nukleare Dimension in diesen Krieg hinein, ohne dass er Atomwaffen einsetzt. Wenn das so weitergeht, sind die Folgen dramatisch, für ganz Europa.

ne: Man könnte sagen, er droht mit einer taktischen, schmutzigen, aber eben nicht militärischen Bombe. Könnte es sein, dass gezielt danebengeschossen wurde? Betroffen waren ja scheinbar nur Nebenanlagen.

Döschner: Dazu ist das Risiko, dass in einer solchen Situation der Reaktor, die Brennelemente-Lager oder Notstromaggregate unabsichtlich getroffen werden, einfach zu groß. Ich muss es wirklich so klar sagen: Das ist Wahnsinn. Jeder Militär kennt die Feuerkraft der eingesetzten Waffen. Wer so etwas macht, der macht das in dem Wissen, dass es zu einer Katastrophe kommen kann und es sich nicht nur um, sagen wir mal, „Warnschüsse“ handelt.

ne: Dennoch hat das Militär den Befehl aber umgesetzt ...

Döschner: Mag gut sein, dass viele der Soldaten nicht abschätzen können, was das für sie bedeutet. Von Tschernobyl weiß ich das ganz genau, ich habe mit Leuten aus der Anlage gesprochen. In der Umgebung waren tausende Soldaten stationiert, die dort eigentlich FFP2-Schutzmasken tragen müssten. Das gilt erst recht, wenn man mit schwerem Gerät durch die Wildnis fährt und die radioaktiven Partikel, die dort seit 1986 im Boden lagern, aufwirbelt. Solches Unwissen zu den Gefahren könnte es auch in Saporischschja geben, wobei ich mir das nur schwer vorstellen kann. Aber gerade in Russland ist das militärische System von Befehl und Gehorsam sehr ausgeprägt. Als Korrespondent habe ich mich gefragt, wie ist es möglich ist, dass Soldaten dazu fähig sind, beispielsweise einen Marktplatz in Grosny, der Hauptstadt von Tschetschenien, zu bombardieren. Da sind damals mehr als 600 Menschen ums Leben gekommen. Auch das ist rational nicht nachvollziehbar. Mit dieser Dimension haben wir es jetzt zu tun. Es wurde jegliche moralische und rationale Basis verlassen. Wir müssen uns im Grunde genommen auf alles einstellen.

ne: Was bedeutet es dort für die Versorgungslage der Menschen, wenn die Meiler aus Sicherheitsgründen runtergefahren werden?

Döschner: Es gibt schon jetzt Probleme mit der Stromversorgung, die Versorgungslage ist also bereits schlecht. Das wird noch schlimmer, wenn die Atomkraftwerke vorsorglich abgeschaltet werden, denn sie liefern mehr als die Hälfte des Stroms in der Ukraine. Wenn dann noch die externe Stromversorgung der Atommeiler ausfällt, haben wir, wie schon angedeutet, eine Situation wie in Fukushima. Damals kam es zum sogenannten Station Blackout, den SBO, das ist der Worst Case. Wenn das passiert, kann es zur Kernschmelze kommen. Ich denke, die Menschen in der Ukraine würden einen schlichten Stromausfall hinnehmen. Aber in der Folge könnte es zu einer großen Katastrophe kommen. Und ich habe viele Rückmeldungen auch von Menschen aus der Ukraine, dass dort die Angst sehr groß ist, was mit den Nuklearanlagen passiert. Bislang war das Thema in Deutschland aber nicht richtig angekommen. Wir werden das Bedrohungspotenzial viel stärker im Blick haben müssen.

ne: Die Internationale Atomenergie Agentur (IAEA) in Wien hat nach dem Angriff Alarm geschlagen. Nun will eine Delegation zum AKW Saporischschja fahren. Ist das das richtige Zeichen, kann das helfen?

Döschner: Der Alarm der IAEA kam leider spät. Angehörige von denen, die jetzt in Tschernobyl als Geiseln gehalten werden, haben sich schon sehr früh an die IAEA gewandt und haben keine Antwort bekommen. Erst wurde versucht, das Problem kleinzuhalten. Die nachfolgenden Äußerungen, dass der Brand gelöscht sei und keine erhöhte Radioaktivität gemessen wurde, werden meiner Meinung nach den enormen Risiken nicht gerecht. Die Gefahr ist ja nicht vorbei. Es hätte schon viel früher einer deutlichen Ansprache der IAEA bedurft. Das gilt auch für die deutsche und internationale Politik. Man beginnt scheinbar erst jetzt die Dimension der Gefahren zu begreifen, die von 15 aktiven Reaktoren und mehreren zehntausend abgebrannten, relativ schlecht gelagerten Brennelementen ausgehen.

ne: CDU-Chef Friedrich Merz hat öffentlich ins Spiel gebracht, ob jetzt nicht doch ein NATO-Einsatz geboten ist …

Döschner: Das halte ich für groben Unfug – allgemein, und in Bezug auf die Gefahren von den Nuklearanlagen erst recht. Der Westen hätte meines Erachtens bereits vor Beginn des russischen Einmarsches viel härter und klarer auftreten müssen. Nehmen wir mal die IAEA. Sie zeigt sich jetzt besorgt, will eine Delegation in die Ukraine senden. Warum ist das nicht im Vorfeld des Kriegs passiert? Warum hat man nicht zu einer Zeit, als das noch möglich war, internationale Beobachter in alle Atomanlagen der Ukraine – einschließlich Tschernobyl – entsandt? Das hätte Putin vielleicht zu einem etwas vorsichtigeren Vorgehen zumindest bei den Atomkraftwerken gebracht.

ne: Vielen Dank für diese Einschätzung.

*Jürgen Döschner hat im Juli 2021 gemeinsam mit Theresa Leisgang, Lorenz Matzat, Torsten Schäfer, Ute Scheub, Sara Schurmann, Leonie Sontheimer und Raphael Thelen das Netzwerk Klimajournalismus Deutschland gestartet. Ähnlich wie etwa das Netzwerk Recherche will das Netzwerk Klimajournalismus Dtl. regelmäßig Journalist:innen zusammenbringen, um inhaltliche und redaktionelle Fragen zu diskutieren.

Infos unter www.klimajournalismus.de

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