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CO2-Rechner

„Die EU wird ihr Klimaschutzziel verfehlen"

Quelle: WWF

Quelle: WWF

Ein Screenshot des CO2-Rechners.

Benjamin von Brackel, 21.10.16
Europa arbeitet gerade seine Klimaschutzpolitik für 2030 aus. Für Laien war bisher kaum zu durchblicken, was das bedeutet. Ein neues Onlinewerkzeug der Umweltorganisation WWF stellt es leicht verständlich dar – und zeigt die Lücken auf.

Uns bleiben noch fünf Jahre, vielleicht zehn. Wenn wir in dieser Zeit die falschen Entscheidungen treffen, dann könnte die Begrenzung der Erderwärmung, wie sie in Paris beschlossen wurde, nicht mehr zu schaffen sein. "Diese Dekade ist entscheidend", sagt Juliette de Grandpré, Referentin für EU-Klima und Energiepolitik bei der Umweltorganisation WWF. "Da muss etwas passieren." Insofern müsste ganz Europa nun mit Argusaugen verfolgen, was sich in diesen Wochen in Brüssel abspielt. Denn die EU ist gerade dabei, ihre Klimapolitik für die Jahre 2020 bis 2030 zu justieren. Am Donnerstag tagt der Industrieausschuss. Im Februar 2017 stimmt das EU-Parlament ab. Das heißt: Jetzt ist die entscheidende Phase.

Auf viel Interesse stößt das in der Öffentlichkeit aber trotzdem nicht; auch nicht, dass Europa mit dem aktuellen Entwurf der EU-Kommission seine Klimaziele wohl verfehlen dürfte. Das hat einen einfachen Grund: Nur Fachleute durchdringen das dichte Geflecht der EU-Klimavorgaben samt dem Geschacher der Mitgliedsländer. So geht fast unter, dass die EU gerade dabei ist, ihre Glaubwürdigkeit als Klimavorreiter zu verspielen. So sieht das zumindest der WWF, der am Dienstag einen vom Öko-Institut entwickelten CO2-Rechner präsentiert hat, mit dem er zeigen will, dass die EU-Kommission „trickst" und die Zahlen im aktuellen Entwurf für die anstehende Klima-Reform schönrechnet. Es lohnt sich also, einen Blick auf die Zahlen und Ziele zu werfen.

EU-Ziel ist, die Treibhausgas-Emissionen bis zum Jahr 2030 um 40 Prozent gegenüber 1990 zu senken. Das wichtigste Klimaschutzinstrument der EU – der Handel mit Treibhausgas-Zertifikaten – ist aber eine Dauerbaustelle. Weil der Handel über Jahre mit kostenlosen Zertifikaten überschwemmt worden ist, liegt der Preis für die Emissionsberechtigungen im Keller – bei etwa sechs Euro pro Tonne CO2. Damit Unternehmen in emissionsarme Technologien investieren, statt Zertifikate zu kaufen, ist laut Analysten mindestens ein Preis zwischen 30 und 40 Euro nötig. Manche kommen sogar auf das Doppelte. Der Anreiz ist also zurzeit gleich null.

Um das zu ändern, wurden einige Tausend Zertifikate vorläufig aus dem Handel genommen. Weil das ohne Wirkung blieb, wurde die sogenannte Marktstabilitätsreserve beschlossen, durch die ab 2019 jedes Jahr zwölf Prozent der Zertifikate aus dem Markt gehen sollen. Damit soll der gigantische Überschuss von zwei Milliarden Zertifikaten abgebaut werden. Weil gleichzeitig aber weiter Zertifikate jedes Jahr kostenlos zugeteilt werden, ist der Effekt begrenzt. Allein von 2008 bis 2014 wurden kostenlose Zertifikate im Wert von über acht Milliarden Euro an die Industrie verteilt.

„Tricksereien" bei der Lastenverteilung

Deshalb plant die EU-Kommission nun die dritte Reform, die in der kommenden Handelsperiode ab 2021 den Durchbruch bringen soll. Sie will den sogenannten linearen Reduktionsfaktor von jetzt 1,74 Prozent auf 2,2 Prozent erhöhen – das würde größere Anstrengungen für die Betriebe bedeuten, CO2 einzusparen. Außerdem soll der Anteil der kostenlos ausgegebenen Emissionsrechte von 60 Prozent auf 43 Prozent reduziert werden.

Nach Berechnungen der Umweltorganisation Germanwatch wäre mit der Reform bis 2015 ein Zertifikatepreis von 20 Euro erreichbar – maximal. Je nach Entwicklung des Wirtschaftswachstums könnten es aber auch nur zehn Euro sein. Das ist weit entfernt von den nötigen 30 oder 40 Euro. „Der europäische Emissionshandel bleibt bis zum Jahr 2030 irrelevant", urteilt deswegen Klimaexpertin de Grandpré trotz der aktuellen Reformpläne.

Der Zertifikatehandel deckt allerdings nicht mal die Hälfte der Emissionen ab, die Europa ausstößt. Ganze Sektoren wie der Verkehr, die Landwirtschaft oder die Gebäude sind davon gar nicht erfasst. Diese Emissionen regelt ein System, das den Namen „Effort Sharing" trägt, was so viel wie Lastenteilung bedeutet. Bis 2030 sollen hier 30 Prozent der Emissionen europaweit eingespart werden, bezogen auf 2005. Diesmal bestimmt nicht der Markt, wie viel jedes einzelne Land beizutragen hat, sondern die Länder machen das untereinander aus. Entsprechend groß ist das Geschacher. Deutschland müsste als starke Wirtschaftsnation 38 Prozent seiner CO2-Emissionen einsparen, Polen nur sieben Prozent.

Allerdings kritisiert de Grandpré, dass diese Zahlen oft mit der Realität nichts zu tun hätten. Eine Reihe von „Schlupflöchern" helfe den Staaten, weniger tun zu müssen, als es den Anschein hat. So würden als Ausgangspunkt beim Start der Periode 2020 nicht die Emissionen des Startjahres gewertet, sondern die Durchschnittsemissionen der Jahre 2016 bis 2018. Weil aber davon auszugehen ist, dass die Treibhausgas-Emissionen bis 2020 weiter sinken, gilt ein höherer Ausgangswert. Die Folge: Es muss weniger eingespart werden. „Das bedeutet Hunderte Millionen Tonnen an zusätzlichen CO2-Emissionen", sagt de Grandpré.

Ein zweites Schlupfloch: Die EU-Staaten können etwa ihre Wälder anrechnen lassen, weil sie mehr CO2 entziehen als ausstoßen. Wohlgemerkt: es geht nicht um Wälder, die neu aufgeforstet werden, sondern bereits bestehen. In der CO2-Bilanz ändert sich also nichts. Trotzdem will die EU-Kommission, dass 280 Millionen Tonnen CO2mit dem Landnutzungs- und Forstsektor – Fachkürzel LULUCF – verrechnet werden.

So gerechnet, wie es gerade am besten passt

Auch beim Emissionshandel sieht die WWF-Expertin Schlupflöcher: So sehe der Kommissionsentwurf vor, dass die Überschüsse aus der aktuellen Handelsperiode einfach in die nächste wandern, statt gelöscht zu werden. Und auch mit dem Startpunkt wird laut de Grandpré wieder getrickst: 2020 nämlich dürfte die EU ihr Ziel noch übererfüllen. Statt aber hier einen früheren Durchschnittswert ähnlich wie bei der Lastenteilung zu wählen, sieht die EU-Kommission diesmal den Emissionswert von 2020 vor. Das bedeutet abermals: Die Länder dürfen mehr ausstoßen.

Rechnet man das alles zusammen, würde die EU laut CO2-Rechner bis zum Jahr 2030 nur 35,6 Prozent ihrer Emissionen einsparen. „Die EU wird ihr Klimaschutzziel verfehlen", sagt de Grandpré. Fünf Prozentpunkte wäre Europa mit den derzeitigen Maßnahmen von seinem Klimaziel entfernt. Und schon dieses gilt als wenig ehrgeizig – die EU will nach einer globalen Bestandsaufnahme von Klimawissenschaftlern im Jahr 2018 ihr Ziel noch einmal überprüfen. Möglich wäre eine Anhebung auf 50 Prozent. Dann aber dürfte sie ihren viele Jahre dauernden Prozess zur Festlegung ihrer Klimapolitik schon abgeschlossen haben.

Ganz ohne Schlupflöcher würde die EU bei minus 42 Prozent liegen – selbst dann läge also noch viel Arbeit vor dem Staatenbündnis.

Der CO2-Rechner: www.2030carboncalculator.eu

 

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