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Interview

„Wenn ich Technologieoffenheit will, dann muss ich über die CO2-Bepreisung auch Chancengleichheit herstellen“

Interview: Astrid Dähn und Jörg-Rainer Zimmermann, 07.03.19
...sagt Stefan Kapferer, Hauptgeschäftsführer des Energiewirtschaftsverbands BDEW. Dass sich die Bundesregierung im Stromsektor einer Reform der Steuern, Abgaben und Umlagen bislang verweigert, hält er für ein schweres Versäumnis.

neue energie: Herr Kapferer, Sie fordern, dass die Energiewende an Tempo gewinnt. Was ist jetzt wichtig?

Stefan Kapferer: Ich glaube, dass wir beim Klimaschutz im Energiesektor an Fahrt aufgenommen haben, das ist ein gutes Zeichen. Ich denke auch, dass wir es schaffen können, das Ziel für 2022 zu erreichen, im Energiesektor die Emissionen um 45 Prozent zu mindern. Wir haben ja Überkapazitäten, die jetzt schneller aus dem Markt gehen. Bei den notwendigen Reformschritten für die Zeit nach 2022 brauchen wir allerdings tatsächlich mehr Tempo.

ne: Wie soll das funktionieren?

Kapferer: Wenn wir die Kohlekapazitäten abschalten wollen, wie es die Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung vorgeschlagen hat, brauchen wir im Jahr 2030 zwingend 65 Prozent Erneuerbare. Auch ein schnellerer Netzausbau ist zwingend. Das dritte Thema ist die Versorgungssicherheit. In der Kommission gab es eine sehr hohe Übereinstimmung darin, dass die Abschaltung von Kohlekraftwerken auch davon abhängt, ob es gelingt, die nötigen Mengen an gesicherter Erzeugungskapazität vorzuhalten. Gemeinhin geht man von 50 Gigawatt an gasbasierten Kapazitäten aus, die schrittweise grün werden müssen. Wir haben aktuell nur 30 Gigawatt. Denn heute rechnet sich ein Gaskraftwerk im Energy-only-Markt nicht. Wir sehen zwar, dass über das Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz Umrüstungen stattfinden. Da kann man sicherlich von 30 auf 40 Gigawatt kommen. Dann fehlen aber noch zehn Gigawatt.

ne: Welche Rolle spielt der CO2-Preis?

Kapferer: Der vielleicht wichtigste Punkt ist tatsächlich die Reform der Steuern, Abgaben und Umlagen. Wenn wir bei den Power-to-X-Technologien weiterkommen wollen, wenn wir wollen, dass Strom wettbewerbsfähig ist, dann geht das nicht mit relativ niedrigen steuerlichen Belastungen von Heizöl, Diesel und Benzin, während wir auf der anderen Seite die hohe Stromsteuer haben. Dass die Bundesregierung das nicht anpackt, halte ich für ein schweres Versäumnis.

ne: Warum das Zögern?

Kapferer: Es gibt zwei Punkte. Zum einen fürchtet sich die Bundesregierung vor sozialen Verwerfungen. Jemand, der in einem neuen, gut sanierten Gebäude lebt und zur Arbeit mit dem Fahrrad fährt, würde massiv entlastet. Jemand, der mit einem alten Auto 30 Kilometer zur Arbeit fahren muss und in einem schlecht isolierten 50erJahre-Gebäude wohnt, würde massiv belastet.

ne: Wie könnte man das gerechter gestalten?

Kapferer: Man muss bestimmte Zielgruppen entlasten. Etwa bei den Lohnzusatzkosten, den Steuern oder auch durch direkte Kompensation, wie man es aus der Schweiz kennt. Es wird allerdings in jedem System Verlierer geben. Deshalb aber die ganze Debatte einzustellen, wie es der Bundesregierung offensichtlich vorschwebt, halte ich für einen schweren Fehler. Denn, und das sage ich insbesondere den Kollegen der CDU/CSU, eine CO2-Bepreisung hätte – und das ist der zweite Punkt – innovationsfördernden Charakter. Ich höre von Verkehrsminister Scheuer regelmäßig, dass er synthetische Kraftstoffe für zukunftsträchtig hält. Solange aber CO2 im Bereich von Diesel und Benzin keinen Preis hat und der Strom, den ich verwende, um synthetische Kraftstoffe herzustellen, steuerlich massivbelastet wird, wird das nichts. Wenn ich Technologieoffenheit will, dann muss ich über die CO2-Bepreisung auch Chancengleichheit für die verschiedenen Technologien herstellen.

ne: Sie sind Mitglied der Kohlekommission. Wie zufrieden sind Sie mit dem Ergebnis?

Kapferer: Ich finde, es ist ein Erfolg, dass sich eine ganz bunt gemischte Gruppe am Ende auf einen gemeinsamen Vorschlag geeinigt hat. Ich habe immer gesagt, dass die Energiewirtschaft einem Vorschlag nur zustimmen kann, wenn er energiewirtschaftlich verantwortbar ist. Das ist erfüllt. Die zweite Forderung war, bei Eingriffen der Politik in Eigentumsrechte der Unternehmen Entschädigungen zu zahlen. Auch das ist im Bericht enthalten. Als Drittes war mir wichtig, dass ein Weg aufgezeigt wird, der Wachstumspotenziale der Energiewende erschließt. Die Energiewende ist bei uns ja fast schon ein bisschen in Verruf. Es gibt Debatten um Kosten und Akzeptanzfragen. Wie viele Chancen in dem Prozess stecken, wird dagegen gar nicht mehr diskutiert.

ne: Es wird auch viel über die Kosten des Kohleausstiegs gestritten…

Kapferer: Da werden Dinge vermengt, die nicht zusammengehören. Der größte Kostenblock ist durch die Forderungen der Ministerpräsidenten der betroffenen Bundesländer entstanden. Zu diesen durchaus notwendigen Ausgaben käme es auch ohne Kohlekommission. Man hätte den Strukturwandel in den Regionen ohnehin organisieren müssen. Beim zweiten Kostenblock, bei der Kompensation von steigenden Strompreisen, wissen wir heute alle noch gar nicht, ob das Realität wird. Wir sprechen also von fiktiven Kosten. Von daher würde ich sagen, dass es ein wenig wohlfeil ist, die Kosten als Kritikpunkt anzuführen.

ne: Wie groß ist die Gefahr, dass der Kompromiss nicht standhält?

Kapferer: Ich warne alle Beteiligten, egal von welcher Seite, jetzt vorschnell damit zu drohen, den Kompromiss aufzukündigen. Die Hauptgefahr droht von einer falsch geleiteten Kostendebatte, weil die Finanzsituation im Bundeshaushalt schwieriger wird. Wenn man Klimaschutz zu einer so zentralen, innenpolitischen Frage macht, dann müssen natürlich auch entsprechende Schwerpunkte im Bundeshaushalt gesetzt werden. Es ist jetzt an den Ministerien und an der Bundeskanzlerin, die Regierungsfraktionen davon zu überzeugen.

ne: Peter Altmaier hat sich früher als Bundesumweltminister zwar zur Energiewende bekannt, aber auch oft auf die Kosten und die Notwendigkeit des Netzausbaus hingewiesen. Das prägt bis heute die öffentliche und politische Debatte …

Kapferer: Ich bin da relativ entspannt. Die Erneuerbaren sind heute längst wettbewerbsfähig. Sie werden im Vergleich mit konventionellen Energieträgern ja nur deshalb als teurer wahrgenommen, weil Neuinvestitionen in Erneuerbaren-Anlagen mit bestehenden fossilen Anlagen konkurrieren. Wir werden sehr rasch erleben, dass wir im konventionellen Bereich gar keine Überkapazitäten mehr haben, sondern eine Unterdeckung. Von da an wird sich die Wettbewerbssituation der Erneuerbaren nochmals schlagartig verbessern. Gleichzeitig werden zunehmend sehr teure Anlagen der Anfangsphase aus dem Fördersystem ausscheiden. Insofern stehen die Chancen gut, dass wir bei der EEG-Umlage demnächst eine fallende Kurve sehen werden.

ne: Würde es der Energiewende nicht helfen, wenn endlich die externen Kosten der fossilen Energien im Energiepreis abgebildet würden, wie oft von der Wissenschaft gefordert?

Kapferer: Das ist schwierig. Es gibt sehr unterschiedliche Einschätzungen, welche externen Folgekosten entstehen, wenn man zum Beispiel Kohle verstromt. Dass es diese Kosten gibt, ist aber völlig unstrittig.

ne: Sie sind auch in der Verkehrskommission aktiv. Wie geht es dort voran?

Kapferer: Der Verkehrssektor hat von allen Sektoren bisher die geringsten Beiträge zum Klimaschutz geliefert. Nun wird mit großer ideologischer Vehemenz über ein Tempolimit diskutiert, was aber für das Klimaschutzziel relativ nachrangig ist. Die entscheidende Frage ist: Wie schnell schaffen wir den Umstieg weg vom Verbrennungsmotor auf Basis fossiler Brennstoffe hin zu sauberen Antrieben? Wir müssen 2030 mindestens neun Millionen Elektrofahrzeuge auf den Straßen haben. Dann ist das Klimaziel zu schaffen. Dann erledigen sich auch möglicherweise viele Dinge von selbst, die der Bundesverkehrsminister im Moment mit großer Sorge betrachtet, etwa die Luftverschmutzung in Städten.

ne: Neben den beiden erwähnten Kommissionen war eigentlich noch ein drittes Expertengremium geplant, eine Kommission, die sich mit der Energieeffizienz von Gebäuden beschäftigen sollte. Die will Horst Seehofer als zuständiger Minister nun nicht mehr einberufen. Ist das ein schlechtes Zeichen für die Klimaschutzbemühungen der Regierung?

Kapferer: Man darf schon fragen, ob man für jeden politischen Entscheidungsprozess eine Kommission braucht. Gerade im Gebäudebereich liegt eine Reihe von klugen Vorschlägen seit Jahren auf dem Tisch. Einer davon – die steuerliche Absetzbarkeit energetischer Gebäudesanierungen – steht übrigens seit vier Regierungen in jedem Koalitionsvertrag, wird aber nicht umgesetzt. Am Ende wird sich die Bundesregierung daran messen lassen müssen, ob sie die Klimaziele im Gebäudesektor erreicht. Wenn das gelingt, wird keiner sagen: ‚Wie ärgerlich, dass wir keine Kommission hatten.‘ Zumal dabei nicht zigtausende Arbeitsplätze gefährdet sind.

ne: Im Gegenteil …

Kapferer: … im Gegenteil, wenn es gut läuft, generiert es Arbeitsplätze.

ne: Aber es geht nicht voran. Wie kann man den Prozess beschleunigen?

Kapferer: Als allererstes müsste man die steuerlichen Abschreibungen im Bereich der Gebäudeeffizienz endlich auf den Weg bringen. Hätte die Bundesregierung Geld in die steuerliche Abschreibung für eine Heizungsmodernisierung oder Gebäudedämmung investiert, statt etwa in das Baukindergeld, hätten wir eine gute Chance gehabt, die Sanierungsrate von heute etwas über ein Prozent deutlich zu erhöhen. Das bekäme der Bundesfinanzminister mit dem Deutschen Bundestag innerhalb weniger Wochen im Gesetzgebungsverfahren durchgesetzt.

ne: Wobei auch die Länder eine wichtige Rolle spielen …

Kapferer: Die Länder haben sich über die Jahre einen schlanken Fuß gemacht. Angesichts ihrer Haushaltslage, die ja auch nicht mehr so schlecht ist wie noch vor ein paar Jahren, könnten die Bundesländer beweglicher sein. Aber ich sehe im Moment weder beim Bundesfinanzminister noch bei den Länderfinanzministern die Bereitschaft, die Positionen zu überdenken.

ne: Sie hatten das Thema Akzeptanz angesprochen, darunter lassen sich die Kostendebatte, der Netzausbau und auch der Ausbau der Windkraft einordnen. Was muss geschehen, um dabei vorwärts zu kommen?

Kapferer: Bei Wind an Land ist die Akzeptanzproblematik unübersehbar. Obwohl aus allen Bereichen der Energiewirtschaft Forderungen kommen, das Thema anzugehen, verschlechtert sich die Stimmung. Auch wenn ich kein großer Fan von Akzeptanzzahlungen bin, gilt es zu klären, was eine Kommune davon hat, wenn in ihrem Einzugsbereich Windkraftanlagen errichtet werden.

ne: Das steht ja auch im Koalitionsvertrag …

Kapferer: Richtig, im Netzausbaubeschleunigungsgesetz sind dementsprechend schon bessere Entschädigungen für Landwirte verankert, neben planungsrechtlichen Veränderungen. Am Ende werden wir aber nicht jedes Thema mit Geld zuschütten können. Höhere Entschädigungszahlungen für die Landwirte führen zu höheren Netzentgelten. Und zusätzliche Zahlungen an die Kommunen führen zu höheren Angebotspreisen in den Ausschreibungen für Wind an Land. Wenn man das übertreibt, wird es wieder akzeptanzgefährdend, weil dann erneut die Kostendebatte aufflammt.

ne: Was wäre die Lösung?

Kapferer: Das Genehmigungsproblem bei Wind an Land werden wir nicht innerhalb von wenigen Wochen lösen. Ich glaube, dass wir im Hinblick auf das Erreichen der Klimaziele noch mal über die Gewichtung zwischen Wind an Land, Photovoltaik und Offshore-Wind reden müssen. Es ist wichtig, dass die Bundesregierung die Themen anpackt, bei denen man vorankommen kann, ohne dass es viel kostet. Als allererstes müssten die verbleibenden Netzkapazitäten im Bereich Offshore-Wind ausgeschrieben werden. Es geht um 1,6 Gigawatt. Zugleich müsste man den Deckel von 15 Gigawatt infrage stellen. Zudem sollte es mehr Flächen für Photovoltaik geben, etwa indem man die Begrenzungsabstände der Randstreifen von Bundesautobahnen ändert, Und wir müssen dezentrale Flexibilitätspotenziale fördern. Wir brauchen zum Beispiel Power-to-Gas, um Stromüberschüsse aufzufangen. Denn bei allen Bemühungen um Akzeptanz glaube ich, dass es in Deutschland nur begrenzt möglich ist, neue HGÜ-Trassen zu errichten.

ne: Ein Problem, wenn sich der Ausbau der Windenergie nach dem Netzausbau richten soll, wie es die Bundsregierung propagiert …

Kapferer: Das Thema Netzausbau ärgert mich massiv. Das ist ein dramatisches Problem, bei dem häufig eine Not-in-my-Backyard-Haltung vorherrscht. Die Politik wird sich da bis auf die Landratsebene, bis auf die Ebene der Bürgermeister irgendwann für eine Linie entscheiden und den Konflikt mit den Bürgern austragen müssen. Auf die Netzsynchronität zu achten, finde ich aber berechtigt. Es macht ja keinen Sinn, Windparks zu bauen, solange die nötigen Netze nicht da sind. Ich vermisse in der Politik allerdings zugleich auch die Bereitschaft, darüber zu sprechen, wie sich produzierter, aber nicht ins Netz einspeisbarer Strom verwenden ließe, statt die Anlagen abzuregeln.

ne: In der Windbranche macht sich die Sorge breit, dass die aktuellen Weichenstellungen zu einem Verlust der Akteursvielfalt führen. Wie stehen Sie zur Bürgerenergie, die in den Regionen für viel Akzeptanz gesorgt hat?

Kapferer: Der BDEW hat ein Drei-Säulen-Modell für den weiteren Ausbau der Erneuerbaren vorgeschlagen. Erstens geht es um einen stärker marktgetriebenen Bereich. Power-Purchase-Agreement ist da das Stichwort. Ich will gar nicht leugnen, dass bei diesem Thema sehr professionelle Investoren gute Chancen haben. Die zweite Säule bildet aber das Erneuerbare-Energien-Gesetz. Um sicherzustellen, dass die Ausbauziele erreicht werden, wird selbstverständlich alles, was nicht im Markt zugebaut werden kann, auch künftig über das EEG gefördert. Und bei der dritten Säule geht es um die Prosumer-Welt, also die kleinen Produzenten, die Strom im Wesentlichen für den Eigengebrauch erzeugen. Das heißt, die Akteursvielfalt – Bürgergenossenschaften, professionelle Projektierer, Prosumer – bleibt auch in Zukunft erhalten. Und wenn ich mir die letzten Auktionsergebnisse anschaue, haben immer wieder auch Bürgergenossenschaften Zuschläge erhalten.

ne: Experten gehen aber davon aus, dass kleine Bürgerwindparks kaum noch Chancen haben …

Kapferer: Das denke ich nicht. Jede Bürgergenossenschaft, die in den letzten drei, vier Auktionen bieten konnte, hätte die Chance auf einen Zuschlag gehabt. Worunter wir leiden, sind auch nicht zu niedrige Preise, schließlich waren die durchschnittlichen Zuschlagshöhen zuletzt nah am Höchstwert. Nein, wir leiden darunter, dass die Genehmigungssituation und die Flächenverfügbarkeit nicht gut sind. Und da sind die Bürgergenossenschaften mit Sicherheit in einer besseren Lage als die großen Unternehmen.

ne: Gäbe es mehr genehmigte Projekte, würden also die ausgeschriebenen Kapazitäten ausgeschöpft, würde das automatisch die Angebotspreise drücken. Vermutlich so tief, dass Bürgerprojekte angesichts der hohen Investitionskosten der Windkraft kaum eine Chance hätten …

Kapferer: Lassen Sie uns das abwarten. Wir müssen ja auch sehen, dass zunehmend Anlagen im freifinanzierten Markt unterkommen. Es wird neue Partnerschaften geben. Und wenn der Fall eintreten sollte, dass Bürgerprojekte unter Druck sind, bin ich ziemlich sicher, dass die Bundesregierung gegensteuert.

ne: Sie fordern mehr Flächen für Solarparks, der Ausbau ist hierzulande jedoch auf 52 Gigawatt gedeckelt …

Kapferer: Darüber wird jetzt diskutiert. In der Anhörung der AG Akzeptanz, in der ich als Sachverständiger dabei war, waren die befragten Experten einhellig der Auffassung, dass der PV-Deckel nicht mehr zeitgemäß ist.

ne: Ein Thema, über das die Bundesregierung gerade streitet, ist der Entwurf zum Klimaschutzgesetz. Wie bewerten Sie das?

Kapferer: Ein Teil der Regierungskoalition führt zunehmend eine Debatte über die Frage, ob der Weg, wie wir die Klimaschutzziele verfolgen, ein volkswirtschaftlich effizienter Weg ist. Das ist durchaus berechtigt, finde ich. Dass es dabei auch den einen oder anderen gibt, der den ganzen Weg falsch findet, ist klar. Diese Kräfte dürfen nicht die Oberhand gewinnen. Im anderen Teil der Koalition hat man den Fehler gemacht, den Ansatz der CO2-Budgets zu überstrapazieren. Der BDEW hat sich immer dazu bekannt, angesichts des Minderungsziels von 55 Prozent für das Jahr 2030 zu prüfen, was die einzelnen Sektoren leisten können. Ministerin Schulze möchte jedoch jährliche Budgets. Das ist ein planwirtschaftlicher Ansatz, der mit der Realität nicht viel zu tun hat. Die CO2-Emmissionen hängen unter anderem von der Wirtschaftsentwicklung, dem Wetter und den Energiepreisen ab. Im Jahr 2022 etwa erfolgt der Ausstieg aus der Kernenergie. Viele Experten gehen davon aus, dass es dann 2023 im Energiesektor kurzzeitig zu einem leichten Anstieg der Emissionen kommt, weil wir die Kapazitäten teilweise auch durch Kohle und Gas kompensieren müssen. Insofern hilft uns der dirigistische Ansatz nicht sonderlich.

ne: Aber angesichts der Tatsache, dass wir die Klimaziele zu verfehlen drohen, ist es vielleicht doch sinnvoll, engmaschig zu kontrollieren.

Kapferer: Gegen kontrollieren durch Transparenz habe ich nichts. Wir haben drei Bereiche – Energie, Gebäude und Industrie – die gar nicht schlecht abschneiden. Im Bereich der Landwirtschaft kann man mehr machen. Wer massiv hinterherhängt, ist der Mobilitätssektor. Ich glaube aber nicht, dass es hilft, für jedes Jahr genaue Vorgaben zu machen. Wenn der Verkehr dann mal zehn Tonnen CO2 mehr ausstößt, muss Minister Scheuer sofort Strafe zahlen? Das erscheint mir nicht realistisch.

ne: Wollen sich die zuständigen Ministerien vielleicht einfach nicht der Verantwortung stellen?

Kapferer: Kein Minister ist glücklich darüber, wenn ihm ein anderes Ministerium sagt, dass er die Kosten aus dem eigenen Etat ausgleichen muss.

ne: Verfehlen wir 2030 das Klimaziel, könnte das den Steuerzahler bis zu 30 Milliarden Euro kosten, weil dann aus dem Ausland zusätzliche CO2-Zertifikate gekauft werden müssten …

Kapferer: Sicher, und das ist Treiber genug für die Bundesregierung und die betroffenen Ministerien. Dass man bei der Verletzung der Ziele über einen Sanktions-Mechanismus spricht, halte ich für einen guten Ansatz. Ich könnte es auch nachvollziehen, wenn bestimmte Ministerien die Kosten ausgleichen müssten. Ich glaube aber, dass das extrem dirigistische Modell jährlicher Budgets zum Scheitern verurteilt ist.

ne: Wenn man die deutsche Energiewirtschaft betrachtet, entsteht der Eindruck, dass immer öfter auch die älteren, etablierten Unternehmen zu Gestaltern der Energiewende werden. An welchem Punkt der Systemtransformation sind wir?

Kapferer: Ich glaube, wir sind extrem weit. Das gilt nicht nur für Konzerne wie EnBW oder Eon, das gilt auch für die kommunalen Unternehmen, die auch aufgrund der politischen Gemengelage in den Gemeinderäten Treiber des Prozesses sind. Die Energiewirtschaft ist also längst an dem Punkt angelangt, die Wachstumspotenziale der neuen Energiewelt, der Zukunftstechnologien zu nutzen.

ne: Sie erwähnen häufiger Power-to-X, vorerst dürfte aber Erdgas eine wichtige Rolle zukommen…

Kapferer: Wie lange konventionelles Gas eine zentrale Rolle spielt, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Die Klimaschutzziele des Jahres 2030 lassen sich mit einem gewissen Erdgasanteil problemlos erreichen, wenn parallel der Ausbau der Erneuerbaren weiterläuft. Mittelfristig muss dann fossiles durch grünes Gas ersetzt werden. Und da die Mengen, die uns für Biogas in Deutschland zur Verfügung stehen, begrenzt sind, wird man wohl über Power-to-Gas reden und die Infrastruktur dafür ertüchtigen müssen. Langfristig ist selbstverständlich auch der Gassparte klar, dass sie nicht nur behaupten kann, ‚Gas kann grün‘, sondern dass man das auch beweisen muss.

ne: Deutschland baut zurzeit neue Gaspipelines, Stichwort Nord Stream 2, und legt LNG-Terminals an – Großprojekte, die sich nur bei Jahrzehnte langer Nutzung rechnen. Wann wird dann die Zeit für grüne Gase kommen?

Kapferer: LNG-Terminals kann man sehr schnell umrüsten und für synthetische Gase verwenden, das ist nicht das Problem. Bei Nord Stream 2 geht es um private Unternehmen, die sich entschieden haben, in diese Infrastruktur zu investieren. Wenn wir in zehn oder fünfzehn Jahren in einer Situation sind, dass synthetische Gase wettbewerbsfähiger sind und konventionelles Erdgas auch durch einen gestiegenen CO2-Preis teurer geworden ist, dann entscheidet der Markt. Und der Markt tendiert zu den klimaneutralen Stoffen.

ne: Bislang fehlt Deutschland eine Strategie zum großflächigen Einsatz von Wasserstoff. Japan will dagegen seine gesamte Energiewirtschaft auf H2 umstellen, der Hyundai-Konzern investiert Milliarden. Wann, glauben Sie, ist die deutsche Industrie in der Lage, auf synthetische Gase umzustellen?

Kapferer: In Japan, einem sehr dicht besiedelten Land, gibt es eine andere Ausgangslage als bei uns. Dort ist man weitgehend aus der Atomkraft ausgestiegen, und aufgrund der großen Meerestiefen ist Offshore-Windenergie schwierig zu realisieren. Ich glaube, dass wir hier in Deutschland Zeit verlieren, weil wir uns beim Strom nicht an die Steuern und Umlagen rantrauen. Immerhin gibt es im Wind-auf-See-Gesetz inzwischen die Regelung, dass man einen Elektrolyseur am Windpark bauen kann, ohne dass Steuern, Abgaben und Umlagen anfallen. Darüber hinaus wird der BDEW in Kürze ein Papier vorlegen, wie der Marktanteil für Power-to-Gas zügig gesteigert werden kann. In die Debatte wird viel Schwung reinkommen, egal ob die Bundesregierung das befördert oder nicht.

ne: Sie hatten gesagt, dass die Systemtransformation weit fortgeschritten ist. Von der Digitalisierung wird ein weiterer Schub erwartet. Wie weit sind wir auf diesem Gebiet?

Kapferer: Was die Digitalisierung angeht, werden sich noch enorme Potenziale eröffnen. Wir haben im Bereich der Flexibilitäten und der Laststeuerung einen riesigen Bedarf an digitalen Geschäftsmodellen. Sicher ergeben sich dabei auch Chancen für den Export.

ne: Was könnte die Bundesregierung tun, um an der Stelle für mehr Dynamik zu sorgen?

Kapferer: Sie sollte sich auf das beschränken, was klassischerweise die Aufgabe der Regierung ist, nämlich Infrastruktur und Bildung. Wir brauchen erstens die 5-G-Infrastruktur und zweitens eine digitale Grundkompetenz, die in den Schulen vermittelt werden muss. Da kann vielleicht der Digitalpakt hilfreich sein. Ansonsten würde ich sagen, sollte es besser weniger Feinsteuerung durch die Bundesregierung geben. Die ganze Energiebranche leidet doch unter der Erwartungshaltung der Politik, dass politische Regelwerke genau zu den gewünschten Ergebnissen führen sollen. Wenn wir jetzt über die Digitalisierung der Energiewirtschaft reden, wünsche ich mir daher möglichst viel Freiraum.

ne: Auch beim Thema Sicherheit?

Kapferer: Selbstverständlich muss sich der Gesetzgeber um die Sicherung der kritischen Infrastruktur kümmern. Aber nehmen Sie mal das Beispiel Smart-Meter-Gateway. Seit fast drei Jahren gibt es ein Gesetz für die Einführung der intelligenten Zähler, das nicht umgesetzt werden kann, weil das Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik noch keine drei Gateways zertifiziert hat. Das BSI hat Angst, in den Fokus der öffentlichen Kritik zu geraten, wenn so ein Gerät doch mal von einem Hacker geknackt wird. Datenschutz ist wichtig, aber er darf nicht das einzige Thema sein. Wir verlieren sonst zu viel Zeit beim Klimaschutz.

ne: Es gibt viele Unternehmen, die digitale Lösungen etwa für die Verteilnetze entwickeln. Nur gibt es keinen Roll-out, weil die BNetzA die neuen Technologien oft nicht genehmigt. Dazu müsste die Anreizregulierungsverordnung schnell geändert werden …

Kapferer: Es ist auf jeden Fall richtig, mehr in die Intelligenz als nur in den weiteren Ausbau der Netze zu investieren. Dazu sollte man die Netzentgeltsystematik per se betrachten, die bildet nicht mehr ab, was in der realen Energiewelt geschieht. Nur ist das ein schwieriges Feld. Da sind die Interessen von Erzeugern, von Übertragungs- und Verteilnetzbetreibern betroffen. Aber die Debatte muss selbstverständlich von der Politik geführt werden.

ne: Sie hatten angemerkt, es werde nicht mehr diskutiert, wie viele Chancen in der Energiewende stecken. Brauchen wir eine ganz andere Kommunikationsstrategie?

Kapferer: Was die Kommunikation angeht, haben die Unternehmen in den letzten Jahren viel gelernt. Netzbetreiber und Energieversorger kümmern sich frühzeitig um die Beteiligung der Bürger. Aber zu dem Gesamtkomplex gehört natürlich auch die Politik. Und da ist eine sehr heterogene Debatte über den Ausbau der Erneuerbaren nicht hilfreich. Ein geschlossenes Stimmungsbild, das sich zu dem Ausbauziel von 65 Prozent bekennt, wäre sicherlich hilfreich.

ne: Die Kommunikation zu Klimaschutz und Energiewende erfasst derzeit breitere Bevölkerungsschichten. Was halten Sie von der „Fridays-for-Future“-Bewegung?

Kapferer: Es ist positiv, dass sich junge Menschen artikulieren, auf die Straße gehen für etwas, das sie für wichtig halten; das ist in einer Demokratie wünschenswert. Wir haben ja oft genug geglaubt, dass sich junge Leute politisch nicht so engagieren. Wenn sie es jetzt für den Klimaschutz tun, dann ist das sicherlich ein gutes Zeichen. Nach meiner Einschätzung wird das nicht ohne Wirkung auf die politischen Debatten bleiben.

 


Stefan Kapferer
ist seit Mai 2016 Vorsitzender der Hauptgeschäftsführung und Mitglied des Präsidiums des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). Der Verwaltungswissenschaftler ist Mitglied der FDP und war von 2009 bis 2011 beamteter Staatssekretär im Bundesministerium für Gesundheit. Durch den Ressortwechsel von Minister Philipp Rösler kam Kapferer als Staatssekretär ins Bundeswirtschaftsministerium, wo er bis September 2014 blieb. Vor seinem Wechsel zum BDEW war er stellvertretender Generalsekretär der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Paris.


Dieses Interview stammt aus der Ausgabe 03/2019 von neue energie.

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