Anzeige
Klima-Bürgerrat

Kohle-Ausstiegsturbo und Tempolimit

Joachim Wille, 28.06.21
Ein „Bürgerrat“ macht nach zwei Monaten Arbeit Vorschläge, wie das 1,5-Grad-Limit doch noch zu halten ist. Die Mitglieder sollen die deutsche Gesellschaft abbilden.

Kohleausstieg schon 2030 statt 2038, generelles Tempolimit 120 auf Autobahnen, Solarpflicht für Neubauten. Das sind drei von rund 80 Maßnahmen, die der „Bürgerrat Klima“ unter Schirmherrschaft von Ex-Bundespräsident Horst Köhler vorgeschlagen hat. Ziel: Deutschland soll eine Politik machen, mit der das 1,5-Grad-Erwärmungslimit aus dem Pariser Klimavertrag eingehalten werden kann. 

Der Rat besteht aus 160 zufällig ausgelosten Bürgerinnen und Bürger, wobei darauf geachtet wurde, dass dabei die Gesellschafts- und Altersstruktur Deutschlands abgebildet ist. Die Teilnehmenden tagten zwei Monate lang an Abenden und Wochenenden in Videokonferenzen, um die Handlungsempfehlungen zu entwickeln und darüber abzustimmen. Die Initiative für den Rat war von der Wissenschaftlergruppe „Scientist for Future“ und vom Verein „Bürgerbegehren Klimaschutz“ ausgegangen.

Anders als in Frankreich, wo ein solcher Klimarat von Präsident Macron eingerichtet wurde, hatte das deutsche Pendant keinen staatlichen Auftrag. Unterstützt wurden die 160 Bürgerinnen von einem wissenschaftlichen Kuratorium aus 29 renommierten Klima- und Sozialforschungs-Experten. Die Kosten, rund zwei Millionen Euro, wurden von drei Stiftungen und durch Spenden aufgebracht. Viele der gemeinsam entwickelten Maßnahmen erhielten eine große Zustimmung, teils über 90 Prozent.

Die Kernforderungen des Rats:

Energie

Die gesamte Energieversorgung soll 2035 zu 70 Prozent und 2040 zu 90 Prozent aus erneuerbaren Quellen kommen. Im Stromsektor sollen 100 Prozent bereits 2035 erreicht sein, bei einem Auslaufen der Kohle bis 2030. Um dies zu erreichen, wird jedes Bundesland verpflichtet, mindestens zwei Prozent seiner Fläche für den Ausbau von Photovoltaik und Windkraft bereitzustellen. Neubauten würden ab 2022 generell mit PV-Anlagen ausgestattet. Zudem sollen alle Kommunen unter Beteiligung von Bürgern bis 2023 einen Plan zum Erreichen der Klimaneutralität bis 2030 entwickeln. Dezentrale Energieversorgung und Energiegenossenschaften seien zu fördern. Um Treibhausgase wieder aus der Atmosphäre zu ziehen, plädiert der Rat für natürliche CO2-Speicher wie Moore und Bäume, die Speicherung in tiefen Gesteinsschichten (CCS) lehnt er mehrheitlich (91 Prozent) ab.

Gebäude und Wärme

Energiesanierung von Gebäuden und Wärmwende müssen beschleunigt werden. Öffentliche Gebäude sollen bis 2036 energetisch saniert sein. Die Kosten der Sanierung von Wohngebäuden werden nach dem Vorschlag zu 70 Prozent vom Bund (50) und Kommunen (20) getragen, auf die Wohnungseigentümerinnen entfallen 20, auf die Mieter zehn  Prozent; Zustimmung hierfür: 74 Prozent. Der Einbau von neuen Öl- und Erdgasheizungen wird ab 2026 respektive 2028 verboten (84 Prozent).

Mobilität

Investitionen für die Verkehrsinfrastruktur sollen teilweise vom Straßenbau in den Ausbau von Schienentrassen und den Radverkehr umgeschichtet werden (Zustimmung: 84 Prozent). Der ÖPNV soll attraktiver und billiger werden. Die Erstzulassung für Verbrenner-Pkw wäre nur noch bis 2030 erlaubt (79 Prozent). Eine, mit 58 Prozent allerdings deutlich knappere, Mehrheit im Rat votierte für ein Dreifach-Tempolimit von 120 auf Bundesautobahnen, 80 auf Landstraßen und 30 in Innenstädten. Weitere Vorschläge: Kurzstreckenflüge sollen vermieden werden und die Ticketpreise die realen Klimakosten abbilden; dafür ist die Kerosinsteuerbefreiung aufzuheben und die Luftverkehrssteuer zu erhöhen. Verbleibende Flüge sollen zukünftig statt mit Kerosin mit synthetischen Kraftstoffen laufen (94 Prozent).

Ernährung

Landwirtschaft und Ernährungssektor sollen bis 2030 klimafreundlich werden, wobei sich ein entsprechendes Gesetz am 1,5-Grad-Limit orientiert. Die Überproduktion von Nahrungsmitteln hierzulande, etwa von Fleisch, soll verringert werden, ebenso die Verschwendung von Lebensmitteln. Vorgeschlagen wird, die Nutztierbestände so weit zu verringern, dass sich die Emissionen aus der Tierhaltung mindestens halbieren (Zustimmung: 94 Prozent). Eine „Klimaampel“-Kennzeichnung für Lebensmittel soll bis 2030 eingeführt und Werbung für klimaschädliche und ungesunde Produkte, die vor allem auf Kinder zielt, verboten werden.

Instrumente

Als zentrales Instrument sieht der Rat den CO2-Preis, der auf fossile Energieträger erhoben wird, über Einnahmen und deren Verwendung soll jährlich in einem „öffentlich-rechtlichen Klimabericht“ informiert werden. Über die Optionen zur Verwendung wurde im Rat kontrovers diskutiert. Die Gelder für den Ausbau klimafreundlicher Infrastrukturen zu verwenden, befürworteten 40 Prozent, knapp 30 Prozent plädierten für eine direkte Zurückerstattung an die Bürgerinnen als „Klimadividende“ oder „Pro-Kopf-Pauschale“, 22 Prozent für eine Nutzung zur Erforschung und Entwicklung klimaneutraler Technologien. Eine Kombination von allen drei Optionen erhielt mit 93 Prozent den meisten Zuspruch.

Horst Köhler sagte bei der Vorstellung der Empfehlungen: „Vielleicht sind die Bürgerinnen und Bürger schon weiter, als die Politik und manche Kommentatoren es bisweilen vermuten.“ Die Politiker sollten ihre Veränderungsbereitschaft nicht unterschätzen. Der Potsdamer Klimaforscher Wolfgang Lucht meinte, die Ergebnisse des Rats seien eine ausgezeichnete Grundlage für die künftige Klimapolitik in Deutschland. „Sie sollten von der Politik als Auftrag verstanden werden.“

 

Kommentare (1)

Kommentar verfassen»
  • 03.07.21 - 16:01, Heinz OTTO

    Dank an den früheren Bundespräsidenten, Horst Köhler, welcher schon damals als einer der wenigen Repräsentanten unseres Landes den Begriff "PEAKOIL" kannte und auch erwähnt hat-siehe:
    https://www.horstkoehler.de/reden-texte/braucht-die-weltwirtschaft-eine-neue-vision/ .
    Dank auch an Herrn Wille zu seinem Artikel über den Bürgerrat und noch ein Dank an "mein BWE-Magazin" für die heutigen Themen. Werde ein Magazin an den www.denkmalverein.de in HH übergeben, weil die sich sehr stark einbringen für "Erhalt-statt-Neubau"; auch meine Sicht, wenn ich an die vielen Verkehrsbaustellen von Autobahn, U-Bahn, Ferlemann-Tunnel bis zum Ersatz des Bahnhofes in HH-Altona in Diebsteich denke.
    Womit ich zur Grauen Energie und dem "planetaren Grenzzaun: CO2-Budget" komme, welcher hier gut zu erkennen ist: https://scilogs.spektrum.de/klimalounge/wie-viel-co2-kann-deutschland-noch-ausstossen/
    Besten Gruß an die Redaktion, bleibt GESUND und Tschüß von ho@windschiffe.de

Kommentar verfassen

Anzeige
Anzeige