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Bundestagswahl 2017

„Die Verzögerungen bei der Energiewende haben uns Zehntausende von Arbeitsplätzen gekostet“

Interview: Astrid Dähn und Jörg-Rainer Zimmermann, 15.09.17
… sagt Jürgen Trittin, Bundestagsabgeordneter von Bündnis90/Die Grünen. Einen wichtigen Schwerpunkt im Bundestagswahlkampf sieht er in der Elektromobilität – nicht zuletzt als industriepolitisches Thema.

neue energie: Im Entwurf des Grünen-Wahlprogramms nehmen Ökologie und Klimaschutz einen relativ großen Raum ein. Das wirkt so, als kehrten Sie verstärkt zu diesen Themen zurück …

Trittin: Die Grünen waren und sind immer ökologisch, da müssen wir gar nicht zurückkehren. Zu glauben, Ökologie sei etwas, das man so nebenher machen kann, neben Sozialem und anderen Themen, halte ich für ganz falsch. Wenn Sie Ökologie nicht biologisch definieren, dann ist sie nichts anderes als Gerechtigkeit. Es geht um die gerechte Verteilung von Lebenschancen zwischen den Generationen, und zwar im globalen Maßstab. Deswegen ist die Ökologie für uns keine Nebenfrage, sondern wird immer im Mittelpunkt des Wahlkampfs unserer Partei und unserer Politik stehen. Und was den Klimaschutz anbelangt: Wir wissen, dass Deutschland seine Klimaziele nicht erreichen wird, bis 2020 auf keinen Fall, das hat die Bundesregierung selbst zugegeben, und 2030 nur, wenn sich bei uns im Land etwas drastisch ändert. Was sich in Deutschland ändern muss, diese Frage ist wiederum sehr wahlkampftauglich. Die interessiert viele.

ne: Inwiefern?

Trittin: Mein Wahlkreis liegt in Niedersachsen, dem Sitz von Volkswagen. Meine Landesregierung freut sich über sieben Milliarden Euro Gewinn nach Steuern bei VW im vergangenen Jahr, denn davon steht ihr ein gewisser Anteil zu. Inzwischen geht bei deutschen Autoherstellern jedoch die Angst um, dass sie die Umstellung auf E-Mobilität nicht rechtzeitig schaffen. Der Umstand, dass die Bundeskanzlerin in China lobbyieren gegangen ist, um die Einführung einer Mindestquote für Elektromobile in China um zwei Jahre aufzuschieben, war doch ein industriepolitischer Offenbarungseid für das Autoland Deutschland. Da zeichnet sich ein brennendes Problem ab, nicht nur für Niedersachsen, sondern auch für andere Bundesländer, etwa für Baden-Württemberg mit seiner ausgeprägten Zuliefererindustrie.

ne: Und wie wollen die Grünen dieses Problem angehen?

Trittin: Unserer Ansicht nach gibt es zwei wesentliche Instrumente, um den Umstieg auf E-Mobile voranzubringen. Eines davon hilft gleich: Selbst die hohe KFZ-Steuer gegengerechnet, subventionieren wir Diesel-Fahrzeuge zurzeit jedes Jahr mit acht Milliarden Euro. Das muss aufhören. Denn solange das so ist, wird auch die schönste Kaufprämie den Absatz von E-Mobilen nicht ankurbeln. Wir brauchen aber hohe Stückzahlen bei der Produktion, um die Kosten zu senken. Mit dem EEG hat das gut funktioniert: In zehn Jahren haben wir die Kosten für Solarstrom um 90 und für Windstrom um 80 Prozent verringert. Das sind die Lernkurven, die die Autoindustrie im Bereich der Elektromobilität noch durchlaufen muss. Der zweite Punkt ist: Man muss den Unternehmen eine Entwicklungsperspektive geben, sie müssen wissen: Da geht´s hin. Gegen unseren Rat haben die deutschen Autohersteller in den letzten zehn Jahren immer nur auf Effizienzsteigerungen beim Diesel gesetzt. Technisch kann man den Hut vor ihrer Leistung dabei ziehen. Einen entscheidenden Mechanismus konnten sie aber nicht durchbrechen: Wenn ich einen Dieselmotor auf Sauberkeit, also geringen Schadstoffausstoß trimme, ist er nicht mehr effizient. Also haben sie bei den Abgaswerten getrickst. Und die E-Mobilität haben sie darüber komplett vernachlässigt. Der Canossa-Gang der Bundeskanzlerin nach China ist nichts anderes als das Eingeständnis: Wir haben zehn Jahre lang aufs falsche Pferd gesetzt. Das nachzuholen ist unser Anliegen und wird im Wahlkampf einer unserer Schwerpunkte sein, ein sehr industriepolitisches, sehr arbeitsmarktpolitisches Thema.

ne: In Ihrem Programm steht: Sie wollen die Deckelung von Wind, Sonne und Bioenergie auf eine begrenzte Ausbaumenge pro Jahr abschaffen und die Energieversorgung zu 100 Prozent auf Erneuerbare umstellen. Wie wollen Sie dahin kommen? Mit Ausschreibungen, auch im europäischen Rahmen?

Trittin: Wir verfolgen eine ganz andere Logik. Statt einer Deckelung wollen wir Vorgaben für Mindestausbauziele: 2500 Megawatt für Wind an Land und 5000 Megawatt für Photovoltaik. Statt „ihr dürft nur so viel“, sagen wir: „Das ist das mindeste, was gemacht werden muss.“ Ich glaube nicht, dass wir die Umstellung hin zu den Ausschreibungen wieder rückgängig machen können. Das ist vergossene Milch. Im Übrigen haben die Ausschreibungen bisher teilweise sehr interessante Preisentwicklungen mit sich gebracht. Sie haben im Kern zu einer Konvergenz geführt: Offshore-Wind, Onshore-Wind und Photovoltaik kosten alle nahezu das Gleiche. Und: Sie sind alle billiger als jedes neue fossile Kraftwerk. Uns ist aber wichtig, dass wir uns mit Ausschreibungen nicht wieder in die Abhängigkeit von den Entscheidungen einiger weniger Konzerne manövrieren. Die wesentlichen Träger der Energiewende waren bislang Genossenschaften, Bürgergesellschaften und Landwirte. Deswegen brauchen wir eine funktionierende Ausnahmeregelung für diese kleineren Akteure: Anlagen in einem Gesamtumfang von bis zu 18 Megawatt bei Wind und einem Megawatt bei Photovoltaik sollen von den Ausschreibungen ausgenommen werden und nach altem System vergütet werden. Eine solche De-minimis-Regelung würde auch die EU-Kommission akzeptieren, und sie ist klarer und einfacher als die, die das Bundeswirtschaftsministerium jetzt beschlossen hat.

ne: Abgesehen von Mindestausbauzielen und De-minimis-Regelung – wie wollen Sie den Umbau des Energiesystems noch vorantreiben?

Trittin: Für einen schnellen und möglichst bürgernahen Wandel brauchen wir dringend eine Entbürokratisierungsoffensive. Wir müssen zum Beispiel die bürokratischen Hürden und finanziellen Strafen für Leute, die ihren eigenen Strom selbst verbrauchen, abschaffen. Ich finde es einen Witz, dass der Braunkohlebagger EEG-Umlage-befreit ist, wir aber keine Mieterstrommodelle haben, mit denen sich Menschen in Mehrgeschosswohnungen billigen Strom organisieren können, indem sie ihn selber produzieren. Das würde gerade in Ballungszentren, wo die Mietpreise in die Höhe schnellen, für die Gesamtkosten eines Haushalts eine zentrale Rolle spielen. Es wäre somit auch eine sozialpolitisch vernünftige Maßnahme.

ne: Könnte man die Energiewende also mit einer Art Sozialutopie verknüpfen, nämlich mit der Demokratisierung der Energiewirtschaft und der Sozialisierung ihrer Gewinne?

Trittin: Nein, wir müssen auf etwas anderes abheben. Wir müssen erzählen, wie viele Arbeitsplätze durch die Energiewende geschaffen wurden; welche Kosten wir vermeiden, indem wir unser Geld nicht für Rohstoff-Importe nach Russland oder Saudi Arabien transferieren; wie viele Emissionen wir uns jährlich durch die Erneuerbaren ersparen – nämlich ungefähr das Anderthalbfache der Emissionen unseres gesamten Straßenverkehrs. Dieser Teil der Geschichte ist bei den Menschen heute nicht mehr so präsent, er ist von der Debatte um Energiepreise übertönt worden. Wir brauchen also eine Gegenoffensive gegen die Kampagne um die Strompreise, auf die sich zum Beispiel die Initiative „Neue Soziale Marktwirtschaft“ fokussiert hat.

ne: Worin könnte diese Gegenoffensive bestehen?

Trittin: Im ersten Schritt müssen wir die Industriebefreiungen von der EEG-Umlage einschränken. Wenn wir wirklich nur Unternehmen von der Umlage befreien würden, die durch die Abgabe echte Nachteile im internationalen Wettbewerb haben, könnten wir den Strompreis für Privatverbraucher mit einem Schlag um rund einen Cent senken. Der zweite, ganz entscheidende Schritt ist: Wir müssen die Überkapazitäten auf dem Strommarkt beseitigen, das heißt, wir müssen sofort die zwanzig ältesten Kohlekraftwerke stilllegen, und wir brauchen einen verbindlichen Ausstiegsplan aus der Kohle. Das ist im Grundsatz noch nicht einmal umstritten. Wenn ich mit Vorstandsmitgliedern in Kohlekraftwerke-betreibenden Unternehmen oder mit entsprechenden Gewerkschaftlern rede, wird mir immer wieder klar: Die wissen das alle. Bis zur Bundestagswahl werden sich aber alle noch einmal fürchterlich für die Kohle ins Zeug legen. Und nach der Bundestagswahl wird es genauso laufen wie mit der Atomkraft nach der Katastrophe von Fukushima, als die Kanzlerin plötzlich einen 180-Grad-Schwenk gemacht hat: Es gibt eine Kommission, an der alle beteiligt sind. Sie beschließt: Die Kraftwerke werden geschlossen. Nur: Wenn wir zu lange warten, dann regelt der Markt den Kohleausstieg und nicht die Politik. Und der Markt macht sich nichts aus sozialverträglich und demokratisch – der Markt macht das brutal und unvorhergesehen. Dann stehen die Leute auf der Straße. Das kann keiner wollen.

ne: Wenn Sie solche Geschichten rund um die erneuerbaren Energien und den Klimaschutz stärker ins Bewusstsein der Wähler rücken wollen, welche Partner suchen Sie sich dafür? Die Gewerkschaften?

Trittin: Ja natürlich. Ich bin sehr für soziale Verantwortung. Und ich bin seit über 25 Jahren Mitglied der größten Energiegewerkschaft, nämlich von Verdi. Die Grünen haben immer betont: Wir brauchen den Kohleausstieg, aber ohne betriebsbedingte Kündigungen. Wie so etwas geht, haben wir in der Steinkohlegesellschaft vorgemacht: Nächstes Jahr geht die letzte deutsche Steinkohlemine außer Betrieb. Niemand regt sich auf, niemand wird zurückgelassen. So organisiert man einen Strukturwandel, statt zuzuschauen, wie ein Strukturbruch stattfindet.

ne: Sehen Sie die Grünen in der nächsten Regierung?

Trittin: Wir wollen das, ja. Ich habe mir nie den Satz von Franz Müntefering zu eigen gemacht: „Opposition ist Mist.“ Nein, Opposition ist in einer Demokratie zwingend notwendig. Aber wenn wir unsere Ziele im Bereich der Energiewende durchsetzen wollen, dann müssen wir regieren. Wir haben jetzt bald zwölf Jahre lang erlebt, wie wir die Energiewende in Abwehrschlachten immer wieder vor den Parteien an der Regierung retten mussten, die eigentlich dagegen waren. Das ist uns zwar gelungen, aber die Verzögerungen, die daraus resultieren, sind unübersehbar und haben uns mittlerweile Zehntausende von Arbeitsplätzen gekostet, etwa in der Solarbranche. Wir hätten nun die Chance, mit unserer Strategie Zehntausende neu in Arbeit zu bringen, auch über Deutschland hinaus, beispielsweise in Südeuropa. Das könnte der EU, in der ein Viertel aller Menschen unter 25 Jahren derzeit arbeitslos sind, ein ganz neues Signal des Zusammenhalts geben.


 

Zur Person:
Jürgen Trittin ist Bundestagsabgeordneter für Bündnis90/Die Grünen und arbeitet unter anderem im Ausschuss für Wirtschaft und Energie mit. Von 2009
bis 2013 war Trittin Fraktionsvorsitzender seiner Partei, zuvor koordinierte er den Arbeitskreis „Internationale Politik und Menschrechte“ seiner Fraktion und bekleidete im Kabinett von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) sieben Jahre lang das Amt des Bundesumweltministers.

Eine ausführliche Fassung des Interviews ist in der April-Ausgabe von neue energie erschienen.

 

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