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Atomausstieg

AKW Grafenrheinfeld geht vom Netz

Joachim Wille, 26.06.15
Vorlage für den Anti-AKW-Roman „Die Wolke“, Strom für knapp vier Millionen Haushalte: Nach mehr als 33 Betriebsjahren wird an diesem Samstag (27. Juni) das Atomkraftwerk Grafenrheinfeld abgeschaltet. Sorgen um die Energieversorgung macht sich aber niemand, auch nicht die bayerische Landesregierung. CSU-Wirtschaftsministerin Ilse Aigner verspürt sogar einen positiven Energiewende-Moment.

„Die Wolke“ hatte hier ihren Ursprung. Die Jugendbuch-Autorin Gudrun Pausewang ließ 1987 in ihrem Anti-AKW-Roman das unterfränkische Atomkraftwerk Grafenrheinfeld fiktiv explodieren. Super-Gau, ABC-Alarm, kopflose Flucht, Eingreifen des Militärs. Doch die düstere Vision, erschienen im Jahr nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl, deren Fallout ganz Europa in Schrecken versetzt hatte, kann kaum mehr Wirklichkeit werden. Das vom Stromkonzern Eon betriebene Kraftwerk geht an diesem Samstag vom Netz, über 33 Jahre nach der Inbetriebnahme. Es ist die erste Abschaltung eines AKW-Blocks, seitdem die Bundesregierung im Fukushima-Jahr 2011 auf einen Schlag die acht älteren der 17 damals noch betriebenen Meiler stilllegte.

In Bayern als früheres Atomland Nummer eins, das mit fünf großen Reaktor-Blöcken rund 60 Prozent seines Stroms aus der Kernspaltung bezog, geht damit nach Isar 1 bei Landshut das zweite AKW vom Netz. Und zwar sogar vorzeitig. Eigentlich hätte der Betreiber die in Unterfranken am Main gelegene Anlage noch bis Ende des Jahres laufen lassen können. Doch Eon wollte die millionenschwere Kernbrennstoff-Steuer sparen, die für die anstehende Neubeladung des Reaktorkerns angefallen wäre.

Und so konnten die AKW-Gegner aus der Region ihr „Abschaltfest“ bereits über ein halbes Jahr früher feiern. Kurt Petzold, der frühere SPD-Oberbürgermeister aus dem nur gut fünf Kilometer entfernten Schweinfurt, für dessen stromfressende Industriebetriebe das AKW einmal hauptsächlich gebaut wurde, zeigte sich sichtlich erleichtert: Er nannte es „unmöglich, dass ein solches Ding“ jemals so nah an der Stadt mit ihren über 50.000 Einwohnern gebaut wurde. Zum Glück sei ein großer Unfall ausgeblieben.

Selbst die Wirtschaftslobby schweigt

Dass die Lichter in Schweinfurt und Umgebung ausgehen, wenn das AKW nun stillgelegt wird, ist praktisch ausgeschlossen – und das, obwohl der 1345 Megawatt-Meiler, einer der leistungsstärksten weltweit, bisher Strom für knapp vier Millionen Haushalte liefert. Ein Stützpfeiler der Stromwirtschaft in Bayern fällt weg, doch Wirtschafts- und Energieministerin Ilse Aigner (CSU) befand: „Das geht ganz reibungslos.“ Niemand, kein Unternehmen, kein Haushalt, werde spüren, dass der Reaktor vom Netz ist. Einig ist sie da sogar einmal mit dem Grünen-Fraktionschef im Münchner Landtag, Ludwig Hartmann. Der meinte: "Die Abschaltung von Grafenrheinfeld ist für die Stromversorgung ohne Bedeutung.“ Selbst die Wirtschaftslobby hat offenbar ihren Frieden damit gemacht. Früher hatte der Hautgeschäftsführer der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, Bertram Brossardt, immer wieder die Blackout-Gefahr und Leitungsengpässe wegen des Grafenrheinfeld-Ausstiegs an die Wand gemalt. Heute hört man dazu nichts mehr von ihm.

Zoff gibt es wegen des Themas Atom aktuell zwar schon, aber nicht wegen der Reaktorabschaltung, sondern wegen der ungelösten Castor-Frage. Bayern sperrt sich dagegen, Atommüll zwischenzulagern, der ab 2016 aus den Wiederaufarbeitungsanlagen in Frankreich und Großbritannien nach Deutschland zurückkommt. Doch Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD), die am Freitag ein Konzept für Castor-Standorte in vier Ländern vorgelegt hat, darunter auch Bayern, nämlich am AKW Isar, bleibt hart. Den Widerstand aus München nannte sie jetzt in einem Interview mit der „Welt“ „nicht angemessen“, zudem könne der Strahlenmüll auch gegen den Willen der betreffenden Landesregierungen eingelagert werden. Bayern habe „über Jahrzehnte hinweg von der Atomenergienutzung profitiert, mehr als jedes andere Bundesland".

Der Atomausstieg
wurde 2000 durch eine Vereinbarung zwischen der damaligen rot-grünen Bundesregierung und den Stromkonzernen eingeleitet. Als die ersten beiden der damals 19 Reaktoren wurden daraufhin die AKW Stade (2003) und Obrigheim (2005) abgeschaltet. Im Jahr 2010 setzte dann Schwarz-Gelb den Ausstieg außer Kraft und verlängerte die AKW-Laufzeiten wieder.
Mit Fukushima folgte die Neuauflage des Ausstiegs. Acht Reaktoren der älteren Baulinien wurden sofort abgeschaltet, für die restlichen neun ein fester Abschaltplan aufgestellt. Die Termine:

2015: Grafenrheinfeld, 2017: Gundremmingen B, 2019: Philippsburg 2, 2021: Grohnde, Brokdorf, Gundremmingen C, 2022: Isar 2, Neckarwestheim 2, Emsland.
In Grafenrheinfeld wird der Rückbau der Anlagen bis zur „grünen Wiese“ voraussichtlich von 2020 bis 2030 dauern. Ab 2028 sollen die beiden Kühltürme und das kuppelförmige Reaktorgebäude abgerissen werden. Nach der Abschaltung werden 180 der zuletzt 270 Mitarbeiter weiter beschäftigt werden, um den Abriss zu begleiten; 90 bekommen Abfindungsverträge oder Arbeitsplätze an anderen Eon-Standorten angeboten. (jw)

 

Das Aus für den Meiler am Main kann derweil aus mehreren Gründen leicht ausgeglichen werden. So produziert Deutschland seit Jahren trotz der AKW-Serienabschaltung 2011 Elektrizität im Überfluss, der Export boomt. 2014 wurden über 35 Milliarden Kilowattstunden ins Ausland verkauft, hauptsächlich in die Niederlande, die Schweiz und nach Österreich. Ein Teil dieses Stroms, der zumeist aus Kohlekraftwerken stammt, ersetzt nun Grafenrheinfeld; der Export sinkt zumindest vorübergehend. Zudem wird der weiter anwachsende Wind- und Solarstrom diese Grafenrheinfeld-Delle ausgleichen. 2015 und 2016 wird nach Prognosen alleine die Windkraft-Leistung deutschlandweit um jeweils rund 3500 Megawatt (MW) zulegen. Das heißt, rechnerisch kommt die Leistung von rund fünf AKW-Blöcken hinzu – allerdings mit schwankender Einspeisung. Und der Solarzubau soll laut dem Energiewende-Plan der Bundesregierung rund 2500 MW jährlich betragen, was allerdings wohl nicht erreicht werden dürfte; 2014 waren es 1900 MW.

DIW: Deutschland bleibt Netto-Stromexporteur

Der Stromnetzbetreiber Tennet und die Bundesnetzagentur haben zudem dafür vorgesorgt, dass auch bei Verbrauchsspitzen im nächsten Winter in der Region um Schweinfurt genügend Elektrizität verfügbar sein wird. Netzknotenpunkte wurden aufgerüstet, und Reservekraftwerke sind geordert. Rund 550 MW Kraftwerkskapazität werden bereit stehen, um nötigenfalls einzuspringen und einen drohenden Blackout zu verhindern. Weitere Entlastung für das Netz bringt 2016 die Fertigstellung der so genannten Thüringer Strombrücke. Dabei handelt es sich um eine Hochspannungstrasse, die Wind- und Kohlestrom aus Sachsen-Anhalt nach Bayern zum Netzknoten Grafenrheinfeld transportiert.

Der Ausstieg am Main dürfte also nur wenige Probleme machen. Aber wie ist es, wenn bis 2022 sukzessive weitere acht AKW-Blöcke vom Netz gehen, die meisten davon im Süden der Republik und zweimal gleich drei auf einen Schlag? Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), das diese Verschiebungen im Stromangebot jüngst analysiert hat, gibt auch hier Entwarnung. „Ein Blackout droht auch dann nicht“ sagt die Chefin der DIW-Energieabteilung, Claudia Kemfert. Es seien für den Normalfall genügend Strom-Kapazitäten vorhanden. Im Süden Deutschlands wird nach den Modellrechnungen in Spitzenlast-Stunden auch Strom importiert – vor allem aus Österreich und Italien, ansonsten aus den Niederlanden und in geringerem Maße aus Tschechien. Deutschland bleibt dem DIW zufolge aber selbst in der finalen Phase des Atomausstiegs Netto-Stromexporteur, wenn auch in deutlich vermindertem Ausmaß. Nach 2025 steige der Export dann wieder stark an, weil der Ausbau der erneuerbaren Energien voranschreite. Nach dem Konzept der Bundesregierung sollen Mitte des nächsten Jahrzehnts 40 bis 45 Prozent des Stroms aus Wind, Wasser, Sonne und Biomasse stammen.

Aigner, die im Auftrag von Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) gegen Windkraft-Ausbau und neue Stromtrassen kämpft, scheint der problemlose Grafenrheinfeld-Ausstieg doch zu beeindrucken. „Das ist ein guter Moment, um einmal positiv über die Energiewende zu sprechen“, sagte sie, und versicherte: „Wir werden nie am Ausstieg rütteln, allen Schwierigkeiten der Energiewende zum Trotz.“ Autorin Pausewang, inzwischen 87, riet auf dem Abschaltfest trotzdem dazu, weiter aufmerksam zu bleiben. „Trotz der großen Risiken“ seien ja noch eine Reihe AKW im Betrieb. Auch bis zum endgültigen Ausstieg im Jahr 2022 könne „noch viel passieren“.

 

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