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Interview

„Große Energieproduzenten müssen sich anpassen oder werden verschwinden“

Interview: Michael Hahn, 06.06.18
Ein Gespräch mit EU-Kommissionsvize Maroš Šefčovič über die Veränderungen des Strommarkts durch die Digitalisierung, die Chancen der Blockchain-Technologie und Europas Ambitionen beim Klimaschutz.

neue energie: Herr Šefčovič, Sie wollen den europäischen Energiemarkt politisch neu gestalten (siehe Infokasten unten). Gleichzeitig gibt es Entwicklungen wie die Blockchain-Technologie, die als disruptiv gelten, den Markt radikal verändern könnten. Befürchten Sie, dass Blockchain die Umsetzung Ihrer Pläne in Gefahr bringt?

Maroš Šefčovič: Das glaube ich nicht. Die Technologie ist noch ziemlich neu, ich würde aber sagen, dass Blockchain direkt anwendbar ist auf das, was wir planen. Besonders interessant finde ich sie im Bereich des Energiehandels. Für Prosumer* und den Handel zwischen Privatpersonen wird Blockchain sehr hilfreich sein. Die Frage ist: Wie können wir sicherstellen, dass alles korrekt abläuft und dass etwa die Leitungen nicht verstopfen?

*eine Kombination aus den englischen Wörtern produce (erzeugen) und consume (verbrauchen), Anm. d. Red.

neue energie: Stichwort Prosumer, die Europäische Kommission will deren Rolle stärken. Was sagen Sie dazu, dass sich Deutschland in den Verhandlungen zur neuen EU-Erneuerbaren-Richtlinie dagegen ausgesprochen hat, die Hindernisse für den Eigenverbrauch von Energie in Europa zu beseitigen (neue energie 05/2018)?

Šefčovič: Darüber konnte ich kurz mit den zuständigen Experten in Deutschland sprechen. So wie ich es verstanden habe, ist Deutschland nicht dagegen, die Stellung der Prosumer zu stärken. Ich glaube, der Regierung geht es darum, einen möglichen Missbrauch zu vermeiden. Etwa, dass eine Gemeinschaft aus sogenannten Selbstversorgern, die aber tatsächlich kommerzielle Akteure sind, die Situation ausnutzt. Solche Bedenken habe ich in den Diskussionen mit deutschen Fachleuten jedenfalls wahrgenommen. Ich weiß, es wird nach einer Lösung gesucht, und ich bin überzeugt, dass wir sie finden. Denn Deutschland ist einer der großen Befürworter des Gesetzespakets „Saubere Energie für alle Europäer“, in dem diese Richtlinie enthalten ist.

neue energie: Auch die großen Energieversorger testen Blockchain-Anwendungen. Wie, denken Sie, passt das zusammen mit dem Ziel, Prosumern mehr Freiheiten zu ermöglichen?

Šefčovič: Ich denke, dass die fortschrittlichsten großen Energieproduzenten die neuen Entwicklungen auf dem Energiemarkt sehr gut verstehen. Sie wissen, dass sie ihre Geschäftsmodelle anpassen müssen oder verschwinden werden. Wir sehen, wie in allen großen Energieunternehmen grüne Sparten entstehen, wie sie sich auf den intelligenten Energiebedarf einstellen. Zugleich brauchen wir die großen Versorger weiterhin für Reserveleistung, Grundlast und, um das Netz in Schuss zu halten. Digitale Technologien werden eine große Rolle dabei spielen, eine gute Balance in der Beziehung zwischen großen Versorgungsunternehmen und einzelnen Prosumern zu finden.

neue energie: Viele Blockchain-Interessierte kritisieren, dass die Rahmenbedingungen für die Technologie noch nicht klar genug definiert sind. Pioniere der Technologie hingegen wollen mehr Freiheit und so wenig staatliche Auflagen wie möglich …

Šefčovič: Wir brauchen eine zukunftsorientierte Gesetzgebung, die den Eigenschaften der Technologie gerecht wird. Aber Regulierung wird immer nötig sein. Schauen Sie sich Facebook an: Wir alle haben das soziale Netzwerk begrüßt und waren zufrieden damit – auch mit wenig Gesetzgebung. Es galt, je leichter der Zugang ist, desto besser. Und jetzt wurden Millionen von Menschen enttäuscht. Wir haben einen Missbrauch von Daten gesehen, von dem ich mir sicher bin, dass der Facebook-Gründer ihn so nicht beabsichtigt hat. Tatsächlich wurde unterschätzt, was man mit den Daten machen kann. Es ist wichtig, die Daten aus dem Energiesystem besser zu verwalten. Deshalb wird eine Regulierung notwendig sein.

neue energie: Über allem stehen im Energiesektor die Vorgaben aus dem Pariser Klimavertrag. Wie können Blockchain und Digitalisierung an dieser Stelle helfen?

Šefčovič: Es ist absolut klar, dass wir die Energie viel intelligenter produzieren, verteilen und verbrauchen müssen, wenn wir die Klimaziele erreichen wollen. Dafür brauchen wir intelligente Netze. Und wir müssen in der Lage sein, die Energie zu speichern – vor allem in Ländern wie Deutschland, wo leistungsstarke Windmühlen und Solaranlagen stehen, die nicht immer gleichmäßig Energie erzeugen. Bereits heute haben Netzbetreiber und Stromerzeuger Probleme beim Spitzenverbrauch. Natürlich macht das den zuständigen Minister sehr nervös, denn wenn es einen Blackout verursacht, verliert er seinen Job. Es hätte auch einen großen wirtschaftlichen Schaden zur Folge. Mit intelligenten digitalen Technologien lässt sich der Energieverbrauch viel besser steuern. Das ist auch absolut notwendig, wenn wir wollen, dass bis 2030 jedes dritte Auto in Europa elektrisch fährt. Es darf beim Laden kein Ungleichgewicht im Netz entstehen. Und der Strom müsste bei Bedarf auch aus der Autobatterie zurück ins Netz verkauft werden können. Ohne Digitalisierung schaffen wir diese Transformation nicht.

neue energie: Die EU-Ziele bis 2030, etwa der Zielwert von 27 Prozent erneuerbaren Energien, stehen bislang nicht im Einklang mit den Klimazielen von Paris. Wie wollen Sie diese dennoch erreichen?

Šefčovič: Wir hatten drei Ziele, mit denen wir nach Paris kamen. Die Treibhausgasemissionen um 40 Prozent zu senken und 27 Prozent Wachstum bei erneuerbaren Energien und Energieeffizienz. Dieses Paket war das fortschrittlichste, das in Paris auf den Tisch kam. Europa wurde dort zu Recht als führend wahrgenommen. Zudem sind wir die erste große Wirtschaftsmacht – tatsächlich die größte auf diesem Planeten –, die diese Verpflichtungen in verbindliche Gesetze verwandelt. Ich glaube nicht, dass Sie eine andere große Wirtschaft finden werden, die so verbindlich gegenüber den in Paris getroffenen Zusagen ist. Und der dritte Punkt: Dies ist Teil eines Kompromisses unter den europäischen Regierungschefs. Er war sehr schwer zu erreichen, weil wir unterschiedlich leistungsfähige Volkswirtschaften haben. Jetzt können wir den Plan anpassen. Wir als Kommission sind überzeugt, dass wir 30 Prozent erneuerbare Energien zu den gleichen Kosten erreichen können, wie wir es 2014 für 27 Prozent erwartet haben. Ich bin sicher, es ist möglich, dass wir 2030 feststellen, dass wir die Ziele übererfüllt haben. Und vielleicht gelingt das ja mit Technologien, die wir uns derzeit noch gar nicht vorstellen können.

neue energie: Einige Beobachter warnen davor, dass die Europäische Union scheitern wird, wenn die Energieunion scheitert. Was sagen Sie als zuständiger EU-Kommissar dazu?

Šefčovič: Als ich 2004 zum ersten Mal in die EU kam, kurz nachdem die Slowakei als Land beigetreten war, gab es viele Diskussionen darüber, ob die EU die große Ost-Erweiterung bewältigen würde. Um die Stärke der EU zu verstehen, müssten Sie mit den 28 Mitgliedern im Raum sein und sehen, wie der Entscheidungsprozess funktioniert. Wir haben so viele Berührungspunkte, jeden Tag sitzen buchstäblich Hunderte von Arbeitsgruppen zusammen. Die Leute, die in diesem Raum sitzen, kennen sich so gut, ich fühle mich dort wirklich so, als wäre ich mit einer Familie zusammen. Auf jeden Fall sehe ich meine Kollegen häufiger als meine Frau (lacht). Deshalb bin ich mir absolut sicher, dass die EU jedem Druck standhalten wird. Jeder denkt zum Beispiel, der Brexit würde die EU erschüttern. Doch jetzt wird von beiden Seiten daran gearbeitet, dass Großbritannien sich nicht zu weit von uns entfernt. Die Energieunion ist natürlich sehr wichtig, weil sie die europäische Wirtschaft modernisieren und ankurbeln wird. Ich glaube, dass wir uns so einen Wettbewerbsvorteil gegenüber unseren großen Konkurrenten wie China und den USA verschaffen. Bis Ende dieses Jahres wird alles Notwendige dafür getan sein. Dann geht es um die Umsetzung, und ich bin überzeugt, dass sie gelingen wird.

 

EU-Winterpaket

Der Maßnahmenkatalog „Saubere Energie für alle Europäer“, auch Winterpaket genannt, wurde Ende 2016 vorgestellt und betrifft die energiepolitischen Ziele der Europäischen Union von 2020 bis 2030. Das Paket besteht aus vier Rechtsverordnungen und vier Richtlinien, welche von den Mitgliedstaaten noch in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Unter anderem ist vorgesehen, dass erneuerbare Energien in der EU bis 2030 einen Anteil von 27 Prozent am Energieverbrauch erreichen sollen und der CO2-Ausstoß bis dahin um 40 Prozent gegenüber 1990 sinkt (neue energie 01/2017). Die Vorschläge werden in einem sogenannten Trilogformat zwischen EU-Parlament, Kommission und Ministerrat, dem Gremium der Mitgliedsländer, verhandelt. Der Prozess soll noch bis Ende dieses Jahres abgeschlossen sein.

Eine Einigung gibt es bisher nur bei der Gebäudeeffizienz-Richtlinie, sie wurde im Mai vom Ministerrat durchgewinkt. Uneinigkeit herrscht allerdings noch bei den Zielen: Die EU-Kommission sieht vor, dass die Energieeffizienz bis 2030 verbindlich um 30 Prozent steigen soll. Das geht dem Parlament jedoch nicht weit genug, es fordert 35 Prozent. Streitpotenzial gibt es auch in anderen Punkten noch zur Genüge: Bundestag und Bundesrat etwa lehnen Teile des Winterpakets ab, die der EU in ihren Augen zu viel Einfluss auf den deutschen Energiebinnenmarkt ermöglichen würden. Darunter fällt auch die mögliche weitgehende Abschaffung des Einspeisevorrangs für erneuerbare Energien (neue energie 05/2017). Umweltverbände kritisieren zudem, dass das Erneuerbaren-Ziel von 27 Prozent viel zu niedrig angesetzt sei, um den Pariser Klimavertrag einzuhalten. Die EU-Kommission spricht mittlerweile von 30 Prozent (siehe Interview), das EU-Parlament spricht sich für mindestens 35 Prozent aus. (mh)

Kommentare (2)

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  • 08.06.18 - 02:49, Jožko Mrkvička

    Der Interviewte heißt Maroš Šefčovič, nicht Maros Sefcovic. Ein Jörg Müller möchte ja auch nicht Jorg Muller genannt werden.

  • 08.06.18 - 09:46, mh@neueenergie.net

    Sehr geehrter Herr Mrkvička,
    Sie haben natürlich vollkommen recht. Oben auf unserer Startseite und in unserem Heft ist die Schreibweise auch korrekt. Leider hat unsere Homepage Probleme mit der Darstellung der diakritischen Zeichen (entweder werden die Buchstaben nicht gefettet, oder aber zu klein angezeigt) – wir hatten uns deshalb dafür entschieden, sie wegzulassen, werden dies aber wieder rückgängig machen. (mh)

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