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Bücher

  • Cover: „Der Tollhauseffekt“ (2018)
ISBN Nr.: 
978-3-406-62922-8
Klaus Töpfer/ Ranga Yogeshwar
,
C.H.Beck

Unsere Zukunft

19,95 Euro

Ranga Yogeshwar, Physiker und Fernsehmoderator, und Klaus Töpfer, ehemaliger Umweltminister, UN-Direktor und im Frühjahr 2011 Co-Vorsitzender der Ethikkommission, sind auf der Suche nach einem Weg in die Zukunft. Der Leser nimmt teil an einer so lebendigen wie provozierenden Unterhaltung über die Existenzfragen unserer Epoche.

Werden in zwanzig Jahren unsere Kinder die Bilder von Fukushima betrachten so wie wir heute die Bilder von Tschernobyl – mit der gleichen Bestürzung und Ratlosigkeit? Oder werden sie sagen: Wir haben unsere Lektion gelernt, damals ist das Tor zu einem neuen Zeitalter aufgestoßen worden? Wie soll unsere Gesellschaft im Jahr 2030 aussehen? Wie wollen wir leben?

Ihr Fazit: Die Energiewende lässt sich nicht isoliert betrachten, die Krisen der Energie-, Klima- und Sicherheitspolitik und die anhaltende "Kernschmelze" der Finanzsysteme hängen miteinander zusammen. Dennoch lautet ihr Plädoyer: Wir haben die einmalige Chance, die Welt und unser Verhalten zu verändern. Tun wir alles, um dem Diktat der Kurzfristigkeit zu entkommen!

Leseprobe aus dem Buch:

5 KONSUM! KONSUM! KONSUM!

Wo bleibt das Glück in den Bilanzen?

Yogeshwar
Sosehr ich Ihnen in allem recht gebe, auch in dem Potenzial, das Sie in den modernen Technologien sehen, on the long run wird das nicht ausreichen. Darüber hinaus müssen wir uns fragen, warum wir dem Konsum in unserer Gesellschaft einen so hohen Stellenwert beimessen, eine solche Priorität einräumen. Warum sind wir so extrem materiell orientiert? Ich sage das vor dem Hintergrund, dass ich meine Kindheit in Indien verlebte, und das Indien meiner Kindheit hatte interessanterweise neben dem Materiellen noch eine andere Komponente. Mein Großvater S. R. Ranganathan, ein international bekannter Bibliothekswissenschaftler, verdiente für indische Verhältnisse sehr viel Geld, doch er lebte in einem einfachen Haus im Stadtteil Malleshwaram in Bangalore. Er war einfach gekleidet, und materielle Dinge schienen für ihn unwichtig zu sein.

Im Kontrast dazu gab es die neureichen Firmenbesitzer, die mit protzigen Autos und großen Villen ihren Status nach außen demonstrierten. Es war für mich prägend, zu sehen, dass mein Großvater seine Haltung zur Welt nicht durch Konsum, durch einen Materialismus zur Schau stellen musste. Auch meine Eltern haben diese Haltung geteilt. Reichtum bezog sich nicht auf Besitz, sondern auf geistigen Reichtum. Natürlich war das Indien meiner Kindheit noch stark geprägt von der Haltung Mahatma Gandhis und von der besonderen Spiritualität. Hierzulande hingegen scheint es inzwischen eine Regel zu sein, dass man bei diesem oder jenem Einkommen auch dieses oder jenes Auto zu fahren hat. Bei einem höheren Einkommen muss man auch eine höhere Wohnflächen-Quadratmeterzahl haben und eine entsprechend hohe Stromrechnung. In Indien hingegen respektierte man in der Gesellschaft die nichtmateriellen Aspekte, doch mit der zunehmenden Industrialisierung droht dieses auch dort verloren zu gehen.

Töpfer
Heute Morgen stand vor meinem Hotel ein roter Ferrari. Wollte da jemand demonstrieren, er sei ganz bedeutsam, er habe genügend Geld, um sich ein solches Auto leisten zu können? Der Besitzer – oder Mieter – dieses Fahrzeugs definiert sich nicht darüber, dass er es versteht, so mit Menschen umzugehen, dass sie glücklicher werden. Nicht einmal, wenn dies für ihn wirtschaftliche Vorteile bringen würde. Als ich nach acht Jahren Afrika nach Deutschland zurückkehrte, beschlich mich das Gefühl, es habe eine Änderung des Grundgesetzes gegeben. Man habe einen neuen Artikel hinzugefügt: die Pflicht zum Konsum. Wir scheinen ja regelrecht genötigt zu sein zu konsumieren, denn offenbar können wir nur dadurch wirtschaftliche Wachstumsprozesse ermöglichen.

Man fragt nicht mehr nach der Haltbarkeit eines Produkts, nicht danach, ob man ein bestimmtes Produkt auch wirklich braucht oder ob es nur Mode ist, die schnell kommt und geht. Kurze Verfallsdaten werden keineswegs kritisiert. Darüber hatte ich mich schon als Achtundsechziger-Student mit Stamokap-Aktivisten auseinandergesetzt, die die Ansicht vertraten, der Kapitalismus sei in eine Phase getreten, in der der imperialistische Staat und die Wirtschaft nur einige wenige Monopole zuließen. Deshalb sprach man von einem staatsmonopolistischen Kapitalismus, abgekürzt: Stamokap. Diese Stamokap-Leute haben damals schon die Meinung vertreten, dass in den Produkten der Verfall eingebaut sei. Wenn man nur wollte und dürfte, könnten von der Wirtschaft auch langlebigere Produkte hergestellt werden. Damals hatte ich das vehement bestritten, jetzt könnte ich dieser speziellen Argumentation manchmal folgen – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der «Abwrackprämie».

Der Antrieb zur Beschleunigung hat seit meiner Studentenzeit Ausmaße angenommen, die geradezu olympische Dimensionen erreichen: immer höher, immer schneller, immer weiter. Deswegen ist es wichtig, über die Effizienz hinaus die Frage zu stellen, was es denn mit der Suffizienz auf sich hat. Also genau das, was Sie gerade gesagt haben: Wann ist denn genug genug? Maßhalten ist eine der Urtugenden, die wir schon einmal besser beherrscht haben. Das lässt sich etwa bei Augustinus nachlesen, der ein scharfer Dialektiker und einer der großen Denker des Christentums war.

Yogeshwar
Menschen verzichten, wie gesagt, nicht gern. Ich denke, auch wir beide tun das nicht gerade mit großer Freude.

Töpfer
Aber ist die Gestaltung einer besseren Welt Verzicht? Für mich ist das überhaupt kein Verzicht. Immer mehr Menschen sehen darin eine Grundlage ihres Handelns und ihrer Verantwortung.

Yogeshwar
In der Tat, es ist eine Frage der Perspektive. Im Kern geht es um einen Gewinn auf einer anderen Ebene. Ich habe bislang von keinem Menschen gehört, der am Ende seines Lebens davon sprach, dass er sich mehr Zeit wünscht, um noch mehr Geld zu verdienen. Auf dem Totenbett kommen viele zu der Erkenntnis, dass sie mehr Zeit für ihre Freunde und für ihre Kinder hätten haben sollen. Neben den materiellen Dingen gibt es eine Vielzahl von anderen Kategorien. Intellektueller Reichtum und Weisheit sind doch wohl befriedigender als schnelle Autos mit breiten Reifen. Wenn wir auf unseren materiellen Überfluss und unsere Verschwendungssucht verzichten sollen, dann brauchen wir alternative Werte, doch davon hört man herzlich wenig.

In politischen Talkshows wird ständig von Wachstum und Wohlstand gesprochen. Wir vergleichen uns mit anderen Ländern und blicken auf Bruttoinlandsprodukte und auf Exportquoten. Wenn ich zum Jahresende die Reden der Bundeskanzlerin oder des Bundespräsidenten höre, kommt immer wieder das magische Wort «Wirtschaftswachstum» vor. Doch wo ist die Rede von den anderen Werten, von Lebensqualität statt Lebensstandard? Eine solche Verschiebung unserer gesellschaftlichen Werte wäre für den Einzelnen viel befriedigender – wohlverstanden auf der Basis einer materiell gesicherten Grundversorgung. Wachstum würde so eine völlig neue Perspektive erfahren.

Töpfer
Der frühere Bundespräsident Horst Köhler hat das in der Rede deutlich angesprochen, die er 2009 in Augsburg bei der Vergabe des Deutschen Umweltpreises gehalten hat. Er sprach von einer «ökologischen industriellen Revolution». Das war eine großartige Rede. Er hat darauf hingewiesen, dass wir Menschen immer häufiger klagen – auch mit Blick auf ökologische Zielsetzungen –, Verzicht üben zu müssen, materiellen Verzicht. Doch wir sollten uns einmal Gedanken darüber machen, worauf wir gegenwärtig wirklich verzichten – auf Zeit mit der Familie, weil wir stundenlang in einem Stau stehen. Wir verzichten auf Ruhe, weil wir vom Lärm belästigt werden.Viele weitere Beispiele hat Horst Köhler gebracht, hat die Augen geöffnet für eine ganz andere Art des Verzichts. Ich fand deshalb seine Rede sehr mutig, sehr wichtig, sehr zukunftsweisend. Wir alle sollten uns fragen, auf was wir wirklich verzichten. Macht man sich das aufrichtig klar, kommt man zu einem vollkommen anderen Wertemuster. Ich meine, ich verzichte zum Beispiel auf die Nutzung eines dieser neuen vierrädrigen, nach oben nicht offenen Dinger. Wie heißen die bloß?

Yogeshwar
SUVs?

Töpfer
Nein, nein, viel schlimmer.

Yogeshwar
Noch schlimmer?

Töpfer
Noch schlimmer. Ich komme gleich drauf ... Quads! Richtig! Ich meinte Quads.

Yogeshwar
Herr Töpfer, auf einem Quad sehe ich Sie, ehrlich gesagt, nicht. Also wenn das Verzicht für Sie ist...

Töpfer
Nein, das ist kein Verzicht. Aber solche Dinger zeigen doch, welche Pervertierungen mit unserem Konsum verbunden sind. Man kann doch nicht behaupten, dass die Menschen so etwas wirklich wollen. Das wird nur gekauft, weil man zuvor viel Werbung dafür gemacht hat. Doch um wieder auf die notwendige Balance von Effizienz und Suffizienz zurückzukommen: Wenn wir in unserer Gesellschaft immer mehr Einpersonenhaushalte haben, insbesondere in den urbanen Gebieten, scheint dem auch die Suggestion zugrunde zu liegen, dass dieses Leben besser ist als eines in der Familie, weil man auf weniger verzichten muss. Aber es ist genau andersherum. Familien mit Kindern sind nicht diejenigen, die verzichten.

Yogeshwar
Sie verzichten auf materielle Entitäten. Und genau das ist der Grund, warum in Deutschland möglicherweise so wenig Kinder geboren werden. Weil wir eben unseren Fokus zunehmend auf Dinge wie Autos, Kleidung und Computer richten.

Töpfer
Und aus diesem Grund brauchen wir die Frage: Wann ist was genug und aus welchen Gründen? Ich selbst bin Vater von drei Kindern, und ich habe nie den Eindruck gehabt, dass Kinder uns einen Verzicht aufgenötigt oder unsere Zeit gestohlen hätten. Das Gegenteil ist der Fall. Sie haben uns bereichert.

Yogeshwar
Ja, die glücklichsten Momente in meinem Leben waren Momente, die ich mit meiner Familie teilen durfte. Meine Kinder bereichern mein Leben, auch wenn es mitunter anstrengend ist. Als Eltern lernt man, weniger auf sich selbst zu schauen. Man hat das Wohl der Kinder im Blick. Das kostet sehr viel Zeit und Zuneigung, das passt nicht immer in den geordneten Terminplan. Als die Kinder noch klein waren, kamen meine Frau und ich zum Beispiel kaum dazu, ins Kino zu gehen. Doch das ist keinesfalls ein «Sichopfern» für die Kinder. Für uns beide ist es eine Erfüllung. Aber ich kenne viele junge Paare, die mir sagen: «Wir wollen keine Kinder, wir wollen lieber zweimal im Jahr in den Urlaub fahren.» Ich halte das für einen Trend, der in Deutschland an Relevanz zugenommen hat, so wie die Häufung des Wortes «Wirtschaftswachstum» in den Medien. Wer stattdessen von sich behauptet, seine freie Zeit mit Kindern zu verbringen, ja, das klingt so ein bisschen...

Töpfer
Unschuldig. Aber welche Wörter würden Sie anstelle von «Wirtschaftswachstum» vorschlagen?

Yogeshwar
In Bhutan haben sie Zufriedenheit und Glücksgefühle als Maß gesetzt. Anfang 1970 führte man dort das «Bruttonationalglück» ein, und langsam fängt man auch im Westen an, sich über solche Lebenskonzepte Gedanken zu machen. Es könnte sehr spannend werden, sich zu überlegen, was Menschen glücklich macht.

Töpfer
Mit Jigme Khesar Namgyel Wangchuck, dem König von Bhutan, habe ich zweimal lange diskutieren können.

Yogeshwar
Hatten Sie ein Glück!

Töpfer
Jigme Khesar Namgyel Wangchuck ist im Grunde nicht mehr König, weil er den Entschluss getroffen und durchgesetzt hat, sein schönes Land Bhutan zu einer Demokratie zu entwickeln. Etwas, was seine Bürger eigentlich gar nicht recht wollten. Die waren mit ihrem König sehr glücklich. Erwähne ich das in öffentlichen Veranstaltungen, ernte ich damit allenfalls ein Lächeln. Keiner will das so richtig ernst nehmen. Doch wenn man mit dem König einmal gesprochen hat, dann bekommt seine Staatsphilosophie, in deren Zentrum das Glück steht, eine ganz andere Bedeutung. Natürlich gelangt man schnell zu der Frage, wie man Glück messen kann. Doch in dem Moment, wo man diese Frage stellt, sitzt man schon mitten in der Falle. Wir können wohl nur das wertschätzen, was wir messen können. Was wir nicht messen können, hat eigentlich keine Relevanz.

Das ist auch ein extremes Problem in der Entwicklung unserer Wirtschaft. Wann immer wir nach Lösungen suchten, griffen wir auf mathematische Formeln und Modelle zurück. Oft hatte man den Eindruck, dass die Mathematisierbarkeit die ökonomischen Probleme bestimmte, und nicht umgekehrt. Ökonomische Probleme wurden als berechenbare Größen betrachtet. Mittlerweile versucht man zunehmend, davon wegzukommen, setzt sich etwa mit der Spiel- und der Verhaltenstheorie auseinander. Und in diese Richtung denkt auch der König von Bhutan. Natürlich meint er, dass es bestimmte Indikatoren geben müsse, die nicht zu verändern seien. So hat man in die Verfassung hineingeschrieben, dass 70 Prozent des Landes unter Waldbedeckung zu bleiben haben, und zwar nicht Forst, sondern richtig Wald, Urwald.

Ich konnte erst gar nicht begreifen, was denn so etwas in der Verfassung zu suchen hat, das Land liegt schließlich im Himalaya, und es gibt auch nicht so viele Einwohner, die alles abholzen könnten. Aber mir wurde erklärt, Indien sei ein Nachbarland, und von dort könnte Druck auf die Holzschätze und ebenso auf die Wasserkraftleistung ausgeübt werden. Ein weiterer Aspekt bei der Ausformulierung der Verfassung war: Wie viele Touristen lassen wir in unser Land hinein? Die Zahl wurde eng begrenzt, Massentourismus findet bis heute nicht statt, und der Urlaub dort ist nicht billig. Ich fand das phantastisch, denn nun erschloss sich mir langsam, was Glück und Zufriedenheit der Bürger von Bhutan bedeuten könnte.

Yogeshwar
Darüber habe ich im Februar 1986 zwar leider nicht mit dem König von Bhutan selbst, aber mit einem Gesandten von ihm geredet, und zwar in Delhi. In unserem Gespräch ging es um den Tourismus im Himalaya – ich war damals gerade ein Jahr in diesem Gebirge gewesen, wie ich schon erzählte. Freunde von mir hatten mich mit dem Gesandten zusammengebracht. Die Begegnung war sehr spannend, denn damals überlegte man sich in Bhutan, ob das Land sich dem Tourismus öffnen solle. Für mich bestand das Risiko einer unbedachten Öffnung darin, dass es der Region dann so ähnlich ergehen könnte wie Nepal. Tausende Touristen absolvieren jedes Jahr den Annapurna-Treck vorbei an imposanten Achttausendern. Man konnte schon damals erkennen, wie sehr die Hochgebirgsregion durch den Tourismus überfordert war. Alte Strukturen lösten sich auf. Alleine der Bedarf an Brennholz führte zu einer immensen Abholzung. Bhutan hatte noch die Wahl, und klugerweise haben sie sich nicht dafür entschieden, die Grenzen für den Massentourismus zu öffnen. Das Land war nicht in einem Stadium, in dem das Diktat der Ökonomie herrschte.

Töpfer
Dennoch sollte man Bhutan nicht als Paradies bezeichnen. Von der Natur her ist es ein Paradies, keine Frage. Aber es gibt in dem Land große Probleme, auch soziale Probleme. Vor allem bei Amartya Sen, dem indisch-amerikanischen Nobelpreisträger für Ökonomie, kann man nachlesen, dass Glück mit Wahlmöglichkeiten verbunden ist. Nicht zufällig wurden er und Joseph Stiglitz von dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy gebeten, zusammen mit anderen Nobelpreisträgern eine Arbeitgruppe zu bilden, die sogenannte Stiglitz-Kommission, die sich mit der Frage auseinandergesetzt hat, ob das Bruttosozialprodukt, das Wirtschaftswachstum, noch die richtige Stellgröße für das Messen von Wohlstand ist.

Diese Diskussionen sind nicht neu, wir haben sie in Deutschland schon vor dreißig Jahren geführt. Die IG Metall berief damals Konferenzen über die Qualität des Wachstums ein. Der amerikanische Präsident John F. Kennedy sagte drei Monate vor seinem Tod: «Das Bruttosozialprodukt misst alles, außer dem, was das Leben lebenswert macht.» In heutigen Veranstaltungen zu diesem Thema gebe ich den Zuhörern preis: «In meiner Familie hat man dem Bruttosozialprodukt einen Tiefschlag verpasst, denn meine Frau hat beschlossen, sie würde ihre Eltern, wenn sie nicht mehr allein leben könnten, bei uns aufnehmen und sie bis zu ihrem Tod pflegen.» Für das Bruttosozialprodukt ist das nachteilig, denn erst in einem Altenheim wird für die Pflege ein Marktpreis bezahlt. Erst der erhöht das Bruttosozialprodukt.

Die Beispiele sind endlos. Verursacht ein Autofahrer einen Unfall, klatscht auch hier das Bruttosozialprodukt voller Freude in die Hände, denn es muss ja entweder ein neues Auto her, oder zumindest muss das alte repariert werden. Dass wir uns vor diesem Hintergrund über das Bruttosozialprodukt als sinnvolle Maßgröße für Wohlstand intensiv Gedanken machen sollten, ist notwendig, ja zwingend. Doch es bleibt die Überlegung für die Zukunft: Wie will man Glück messen? Wissenschaftliche Ansätze dafür gibt es vor allem im angelsächsischen Raum, wie es etwa die Journalistin Petra Pinzler in ihrem Buch Immer mehr ist nicht genug! herausgearbeitet hat. Existieren über das Quantifizierbare hinaus Dimensionen, die ebenfalls für unseren Wohlstand höchste Bedeutung haben, die wir aber dem Messbaren unterordnen oder demgegenüber vernachlässigen? In einer offenen Diskussion wird man hinsichtlich dieser Dimensionen wahrscheinlich noch nicht allzu viele Gemeinsamkeiten feststellen können. Der Bundestag hat zu diesen Fragestellungen jetzt verdienstvollerweise sogar eine Enquete-Kommission eingerichtet.

Yogeshwar
Haben Sie eine Vorstellung, was die Ansatzpunkte sein könnten?

Töpfer
Wir haben Millennium Development Goals mit den für uns so typischen Aussagen, die das Nord-Süd-Gefälle im Auge haben: «Wir sind in unserem hoch entwickelten Norden in der richtigen Art entwickelt – und ihr im Süden sollt euch in gleicher Weise entwickeln.» Was wir aber nicht haben, das sind Millennium Development Goals für die entwickelte Welt selbst. Es wäre spannend, solche einmal zu entwerfen. Dazu müsste man den Spieß umdrehen und unseren Wohlstand hinsichtlich seiner ökologischen und sozialen Zukunftsfähigkeit auf den Prüfstand stellen. Das fällt uns sehr schwer. Aber das wird man lernen müssen in einer Welt, in der die Einfluss- und Machtstrukturen gerade massiv verändert werden, und das sehr schnell.

Yogeshwar
Wir haben eben von Glück gesprochen, und dabei sollte man im Hinterkopf behalten, dass auf diesem Planeten ein Großteil der Menschen immer noch ums Überleben kämpft. Wenn wir über Entwicklungsziele in unserer Gesellschaft reden, dann auf der Basis, dass unser Weg uns relativen Wohlstand, eine niedrige Kindersterblichkeitsrate, eine exzellente medizinische Versorgung gebracht hat. Wenn ein Mensch hier sagt: «Ah, in Deutschland ist alles ganz furchtbar», könnte man ihm entgegenhalten: «Gut, das ist deine Meinung. Aber willst du lieber in Namibia oder Bhutan leben?» Man muss bei den Entwicklungszielen aufpassen, dass man keine zu romantische Sicht auf andere Länder hat. Und erschreckend ist tatsächlich, wie Sie sagten, dass diese Debatte schon sehr alt ist. Ich denke da nur an die Thesen des «Club of Rome», der 1972 mit seinem Bericht Grenzen des Wachstums verschiedene aufrüttelnde Szenarien über die Weiterentwicklung unserer Welt erstellt hat.

Oder an die 1977 vom US-Präsidenten Jimmy Carter herausgegebene Umweltstudie Global 2000, ein dicker Wälzer. Dann die von Ihnen erwähnten Konferenzen und Kommissionen – all das lässt schon fragen, warum sich de facto so wenig ändert. Möglicherweise müssen wir einen vollkommen anderen Weg einschlagen, als einmal mehr Millennium Goals zu definieren, die, wir wissen es alle, sich auf dem Papier schön ausnehmen, auf einer abendlichen Cocktailparty oder im Dinner Speech hervorragend klingen, aber in der Realität so gut wie nicht umgesetzt werden. Da bin ich Skeptiker. Und jetzt frage ich Sie: Sie sind ein Mann, der dreißig, vierzig Jahre oder wahrscheinlich noch länger im politischen Establishment angestrebt hat, etwas zu verändern. Wenn Sie abends bilanzieren, sind Sie glücklich über das Erreichte, oder sagen Sie: «Ich habe viel versucht, aber kaum etwas ist in der Realität angekommen»?

Töpfer
Einen Augenblick bitte, ich blättere in meinem Büchlein, in dem ich mir Zitate aufgeschrieben habe, die ich nicht vergessen will. Ich suche nach einem von Kardinal Lehmann, das ich nicht mehr aus dem Kopf wiedergeben kann. Er hat einmal gesagt: «Wer nach dem Glück fragt, kommt an kein Ende.» Aber das Zitat geht noch weiter. Aha, hier ist es: «Unser Leben ist doch nur noch ein einziger Roman von der Schwierigkeit, glücklich zu sein.» Das ist ein ganz kluger Satz. Und er beantwortet zum Teil Ihre Frage. Ich bin tatsächlich in einem Alter, wo ich gefragt werde: «Hast du denn etwas bewirkt oder nicht? Bist du mit dem Erreichten zufrieden?»

In dem Moment, wo man glaubt, zufrieden zu sein, wo man der Überzeugung ist, sich selbst glücklich schätzen zu können – in dem Moment laufen wir Gefahr, einen sehr großen Fehler zu machen. Wir vergessen dann, dass auch unser Leben in einem Prozess abläuft. Hat man etwas erreicht, muss man das Kommende gleich mitbedenken, muss die Toleranz aufbringen, das selbst Gedachte und für richtig Befundene mit den Fakten der jeweiligen Realität zu konfrontieren. Mahatma Gandhi hat einmal auf die Frage «Was denken Sie über die westliche Zivilisation?» die Antwort gegeben: «Ich denke, sie wäre eine sehr gute Idee.»

Yogeshwar
«Ist es überhaupt schon eine Zivilisation?», hat er zurückgefragt.

Töpfer
Andere könnten behaupten, unsere westlichen Gesellschaften seien gar keine Zivilisationen, sondern Zuviel-isationen. Wenn ich mich abends frage: «Hast du etwas erreicht? Bist du glücklich am Ende eines Tages?», bin ich im Zweifel glücklich, weil ich wieder bei meiner Familie bin, nicht weil ich den Tag so und nicht anders gestaltet habe.

Yogeshwar
Ja, es gibt das große Glück, und es gibt das kleine Glück. Vermutlich ist meine Frage nach dem Erreichten auch falsch gestellt, denn in gewisser Weise führt ein verändertes Denken auch zu einer anderen Bewertung. Sie haben es ja bereits angesprochen: Es geht eben nicht um rein messbare Faktoren. Wir lassen uns gerne von den Gesetzen der Messbarkeit und der Quantifizierung einfangen. Eine zärtliche Umarmung, ein Kuss oder ein Abend mit Freunden lässt sich nicht mit einem Preisschild beziffern. Bilanzen sind ein Teil der Logik von Geschäftemachern.

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