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Bücher

  • Cover: „Der Tollhauseffekt“ (2018)
ISBN Nr.: 
978-3-96238-012-0384
Claude Turmes
,
Oekom Verlag

Die Energiewende – Eine Chance für Europa

Taschenbuch
25,00 Euro

Wissenschaftler auf der ganzen Welt sind sich einig, dass der Klimawandel bereits Realität ist und jenseits einer Erwärmung von 1,5 Grad bis Ende des Jahrhunderts katastrophale Folgen für Mensch und Umwelt drohen. Warum also werden nicht längst alle Weichen auf „Änderung“ gestellt? Schließlich stehen der Europäischen Union mächtige Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung, um die globale Erwärmung zu bekämpfen.

„Die Energiewende“ liefert einen Blick hinter die Kulissen und zeichnet die erbitterten politischen Kämpfe nach, die in Europa in den letzten 15 Jahren im Dienst der Energiewende und der europäischen Bürger geführt wurden: auf der einen Seite die Architekten – jene, die Lösungen gegen die schweren Auswirkungen der globalen Erwärmung entwickeln – und auf der anderen Seite die Saboteure und Konzernlobbyisten, die die höchsten Ebenen der europäischen Entscheidungsträger infiltrieren, um die Energiewende zu verlangsamen.

Claude Turmes, langjähriges Mitglied des Europaparlaments, zeichnet die von Fortschritten und Rückschlägen geprägte Geschichte der europäischen Energiewende nach – vom Enthusiasmus der frühen 2000er bis zum Rückfall nach der Wirtschaftskrise im Jahr 2008.

 

Leseprobe aus dem Buch:

Einleitung

Straßburg, 17. Dezember 2008: Der Präsident des Europäischen Parlaments, Hans-Gert Pöttering, lässt den Hammer niedergehen: „632 Ja-Stimmen, 25 Nein-Stimmen, 25 Enthaltungen. Damit ist der Bericht angenommen, Glückwunsch, Herr Turmes.“ Mir kommen Tränen der Freude, Erleichterung und Erschöpfung. Als ehemaliger Sportlehrer kenne ich das Gefühl des siegreichen Zehnkämpfers, der alles gegeben hat und über die letzte Ziellinie läuft. Hier war es die Schlussabstimmung über die Erneuerbare-Energien-Richtlinie in der Vollversammlung des EU-Parlaments. Dieses Instrument sollte die Energiewende merklich anschieben. Es geht um einen Paradigmenwechsel in der europäischen Energiepolitik, der die Installation Zigtausender Windräder und Photovoltaikanlagen ermöglichen sollte. Mir kommen Tränen, weil ich an die Jahre denke, als ein Umweltaktivist in Luxemburg mit seinen Freunden solarthermische Module ausgetüftelt hat und davon träumte, die Welt zu verändern. Und heute steht er im Zentrum des europäischen Entscheidungsprozesses, bei dem es um die Zukunft eines lebenswichtigen Guts für Bürger und Unternehmen geht: Energie.

Was hat die Zukunft der Europäischen Union mit der Energiewende zu tun, werden Sie mich fragen. Darum genau geht es, dies ist mein Kampf als Europaabgeordneter seit über 15 Jahren. Vorrangig ging es dabei um Klimaschutz. Wissenschaftler auf der ganzen Welt sind sich einig, dass der auf Treibhausgasemissionen beruhende Klimawandel Wirklichkeit ist. Aus den ausgereiftesten Vorhersagemodellen wissen wir, dass jenseits einer Erwärmung der Erdatmosphäre von 1,5 Grad Celsius bis Ende des Jahrhunderts unumkehrbare Phänomene in Gang gesetzt werden. Sie werden gewaltige Umwälzungen für die Biosphäre bewirken. Wir können jedoch noch eine Wende herbeiführen, indem wir unsere Produktions- und Konsumweise ab sofort ändern. Wir können es nicht für andere tun, aber als Industrieländer müssen wir unseren Beitrag leisten, denn wir haben eine ökologische Schuld: Sie ist aus einem Entwicklungsmodell erwachsen, das für einen Planeten, der im Jahr 2050 rund zehn Milliarden Einwohner beherbergen könnte, nicht vertretbar ist.

Dies ist auch ein Kampf für unser industrielles Know-how. Europa ist zu Recht Weltmarktführer bei etlichen grünen Technologien, wie Onshore- oder Offshore-Windkraftanlagen oder Stromleitungskabeln, die den Fluss der durch erneuerbare Energiequellen produzierten Elektronen verbessern. Unsere industrielle Basis hat sich von der Schwer- zur Hightechindustrie verlagert. Die Energiewende birgt also fantastische Möglichkeiten für den Export und für den Wissenstransfer in der Welt, hinsichtlich der Technologien wie auch ihrer Systemintegration (wie im Fall der grünen Städte). Aber die Konkurrenz ist hart, auf der anderen Seite des Atlantiks ebenso wie in Fernost. Natürlich muss weiterhin in Forschung und Innovation investiert werden, aber das allein wird nicht reichen, um im Rennen zu bleiben. Wir müssen vor allem die Voraussetzungen dafür schaffen, dass diese grünen Technologien dank eines dynamischen heimischen Marktes bei uns zur Entfaltung kommen, damit – auf der Grundlage eines digitalisierten Energiesystems (intelligente Netze, vernetzte Thermostate ...) – erneuerbare Energien, Plusenergiebauten und sanfte Mobilität in großem Umfang Verbreitung finden.

Es ist auch ein Kampf für unsere Arbeitsplätze. Denn ein expandierender Wirtschaftszweig schafft Beschäftigung. Wenn der Energiesektor in seine nächste Entwicklungsphase eintritt, wird dies gewiss nicht ohne Opfer in einigen traditionellen Bereichen vonstattengehen, wie es bei der Schließung der Kohlebergwerke in Frankreich, Belgien und zahlreichen anderen europäischen Ländern der Fall war. Dafür aber kann man auf eine Wiederbelebung der Beschäftigung und sogar auf einen explosionsartigen Anstieg neu zu besetzender Stellen in anderen Bereichen hoffen. Diese Gelegenheiten darf sich Europa mit seiner sehr hohen endemischen Arbeitslosigkeit nicht entgehen lassen – allein schon deshalb, weil diese Arbeitsplätze nicht ins Ausland verlagert werden können. Das gilt etwa für die Dienstleistungen im Bereich der Energieeffizienz, die unseren Facharbeitern und Handwerkern die Chance auf eine berufliche Neuorientierung bieten, oder für die Biogasproduktion, die durch die Schaffung neuer Absatzmärkte die Aufrechterhaltung einer rentableren und nachhaltigeren Landwirtschaft möglich macht. Energiewende bedeutet also auch die Aussicht auf nachhaltige Beschäftigung.

Und schließlich ist dies ein Kampf für die Demokratie. Was kann man tun, um Dinge zu verändern? Wenn man sich auf den allmächtigen, schrankenlosen Markt verlässt oder den sehr exklusiven Klub derer, die in Sachen Energie den Hahn auf- und zudrehen – die Oligopole –, wird sich nichts ändern. Im Gegenteil, wir sind Geisel ökonomischer und geopolitischer Interessen, die sich unserem Einfluss entziehen. Wenn es um Energie geht, möchte ich dem Bürger seine Entscheidungsgewalt zurückgeben, denn die Rechnung bezahlt letztlich er. Vorbei sind die Zeiten, in denen der Kunde dazu verdammt war, tatenlos und stumm zuzusehen, ohne jeden Einfluss auf Entscheidungen und deren Konsequenzen. Künftig sind Energiekonsumenten ein souveräner Bestandteil des Systems: Als aktive, verantwortungsbewusste Bürger, sei es individuell oder im Rahmen einer Genossenschaft, müssen sie selbst Strom produzieren und darüber entscheiden können, wie sie ihre intelligenten Stromzähler verwenden. Statt lediglich für die Entscheidungen der Oligopole zu bürgen, müssen die politisch Verantwortlichen den Bürgern die Möglichkeit geben, sich dieses Themas selbst anzunehmen.

 

Es geschieht auch in „Brüssel“

Im vorliegenden Buch möchte ich diesen politischen Kampf nachzeichnen, der seit 15 Jahren im Dienst der Energiewende und der 450 Millionen europäischen Bürgerinnen und Bürger geführt wird. Was im Zusammenhang mit dieser Wende für das Klima, die Wirtschaft und die Demokratie auf dem Spiel steht, geht über den lokalen und nationalen Rahmen hinaus: Es ist ein tagtäglicher Kampf innerhalb der europäischen Institutionen. Denn der EU stehen mächtige Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung, um Bewegung in die Dinge zu bringen. Kraft der Europäischen Verträge hat sie die Befugnis, Gesetze für zahlreiche Bereiche zu erlassen: Umweltschutz, Kampf gegen den Klimawandel, Energieeffizienz, erneuerbare Energien, Energiebinnenmarkt, Versorgungssicherheit, Infrastruktur und Verbundnetze. Europa hat auch die finanziellen Mittel, die Innovationen im Bereich Energie und Transport anregen können.

Die Funktionsweise der EU-Institutionen ermöglicht trotz ihrer Komplexität und ihrer mitunter mangelnden Transparenz eine vertiefte Debatte aller beteiligten Akteure untereinander – Zivilgesellschaft, Wirtschaft, nationale Regierungen. Zwar muss man das feine Räderwerk kennen, um ihr ganzes Potenzial ausschöpfen zu können. Aber entgegen allen diffusen Ressentiments, wie nationale Regierungen sie verbreiten, die zu „Brüssel“ auf Distanz gehen wollen, werden die von den europäischen Institutionen verabschiedeten Rechtsvorschriften weitgehend von den Mitgliedstaaten einerseits und den Unternehmen und der Zivilgesellschaft andererseits gestaltet.

Seit den Verträgen von Maastricht und Lissabon ist das EU-Parlament ein gleichberechtigter Gesetzgeber. In dieser Eigenschaft ist es natürlich die Zielscheibe intensiver Lobbyarbeit seitens der Industrie und der NGOs. Aber die im EU-Ministerrat vereinten 28 Nationalregierungen sind Co-Gesetzgeber. Ihre Interessen sind in den jeweils subtil ausbalancierten europäischen Gesetzeswerken weitgehend berücksichtigt, und Lobbyarbeit findet größtenteils auf nationaler Ebene statt. Mit anderen Worten: „Brüssel“ entscheidet nicht allein und isoliert. Seine Entscheidungen sind meistens mit Zustimmung von Paris, Berlin, London gefallen ... In diesem Buch wird erläutert, in welchem Maß der Einfluss mancher Regierungen ausschlaggebend dafür war, in welche Richtung sich die europäische Energiepolitik entwickelt hat.

 

Zwei oder drei Dinge zu grüner Energie

Die industrielle Revolution und die Entwicklung der Industrieländer in den letzten 150 Jahren beruhten auf der Verwendung fossiler Energiequellen (Erdöl, Kohle und Gas), bei deren Gewinnung und Verbrennung Treibhausgase entstehen, die unter anderem für die Klimaerwärmung und die Luftverschmutzung verantwortlich sind. In manchen Ländern kommt für die letzten 40 Jahre auch noch die Kernenergie hinzu mit ihrer für Menschen schädlichen Strahlung und Zehntausenden Tonnen radioaktiver Abfälle, die sie künftigen Generationen hinterlässt.

Wir haben ferner ein Energiesystem geerbt, das sich in den Händen großer oligopolistischer Unternehmen befindet. Diese wollen die aufgrund ihrer marktbeherrschenden Stellung erzielten Gewinne nicht geschmälert sehen und sperren sich gegen eine Verringerung der von ihnen bewirkten Umweltbelastungen. Das gilt für EDF und Engie in Frankreich, Enel in Italien, CEZ in der Tschechischen Republik, Endesa und Iberdrola in Spanien und die Großen Vier in Deutschland (E.ON, RWE, EnBW und Vattenfall) in Deutschland.

Wenn unser Energiesystem die Belange von Umwelt, Klima und Mensch besser berücksichtigen soll, kann man auf drei Parameter einwirken: den Verbrauch, die Produktion und die sie verbindende Infrastruktur. Dabei gilt an erster Stelle, dass die kostengünstigste und am reichlichsten vorhandene Energie diejenige ist, die wir gar nicht erst verbrauchen. Indem wir Verschwendung vermeiden – dank besser gedämmter Gebäude, verbrauchsärmerer Industrieprozesse und Haushaltsgeräte und energieschonender Verhaltensweisen –, benötigen wir weltweit weniger Energie.

Wenn wir ferner auf die Produktion einwirken wollen, führen wir eine Wende herbei, indem wir saubere Energie aus regenerativen Quellen produzieren: aus Windkraft, aus Licht und Wärme der Sonne, aus den Kohlenstoffverbindungen der Pflanzen, aus Erdwärme, aus den Strömungen der Meere und Flüsse, aus den Gasen organischer Abfälle im Zerfallsprozess. Und eines Tages vielleicht auch aus von Algen produzierten osmotischen Strömungen und Kohlenstoffverbindungen.

Indem wir schließlich das Stromnetz verdichten und es dank digitaler Technik intelligenter machen, können wir Produktions- und Verbrauchsorte virtuell einander annähern. Und wenn man die Speicherkapazität für Strom innerhalb des Netzes erhöht, kann man jederzeit von der Vielfalt der erneuerbaren Energien profitieren und Verbraucher in die Lage versetzen, selbst zu Energieproduzenten zu werden.

Wir haben unsere Anstrengungen auf diese drei Bereiche konzentriert, um die Energiewende in Europa zu realisieren und in der Geopolitik der Energie Grenzen zu verschieben. Vieles wurde bereits vollbracht und erscheint uns heute selbstverständlich. Ende der 1990er Jahre war das jedoch nicht der Fall. Dass manch einer nicht daran geglaubt hat, ist heute nur noch bedauerlich für ihn ...

 

„Architekten“ gegen „Saboteure“

Natürlich denke ich an diejenigen, die versucht haben, diese Anstrengungen zu unterlaufen: die großen Energieunternehmen, darunter jene, die sich zur „Magritte-Gruppe“ (einer undurchsichtigen, aber einflussreichen Institution) zusammengeschlossen haben. Ich denke auch an BusinessEurope, die mächtige Lobbyvereinigung europäischer Unternehmen, die sich mit den Energieversorgern verbündet hat, um die Energiewende zu Fall zu bringen. Ohne die Unterstützung der konservativen Regierungen in London, Madrid und Warschau sowie der in Paris bis Frühjahr 2017 amtierenden Regierung, die sowohl für Erneuerbare als auch für Kernenergie war, hätten sie ihren Machiavellismus nicht in der Weise ausspielen können. Durch die Unterwanderung der EU-Kommission jedoch konnten diese „Saboteure“ der Wende auf ihre ergebensten Mittelsleute zählen, besonders während der zweiten Amtszeit von José Manuel Barroso, dem Catherine Day als Generalsekretärin treu zur Seite stand.

Glücklicherweise hatte die Energiewende jedoch auch ihre „Architekten“, die ich hier würdigen möchte: EU-Kommissare, Minister, hochrangige Beamte, EU-Abgeordnete, innovative Unternehmer, Visionäre jeder Art, Organisationen der Zivilgesellschaft, Bürgermeister und viele andere mehr.

Das europäische Regelwerk zur Energiewende ist in mehreren Etappen entstanden, die man sinnvollerweise nachzeichnen muss, wenn man die derzeitige politische Auseinandersetzung verstehen will. Es begann mit einer Phase der „lichten Jahre“, in der die Architekten – durchaus unter Mühen – das Fundament legten. Der Höhepunkt war 2008 mit der Verabschiedung des Klima- und Energiepakets sowie des 20-20-20-Pakets für 2020 erreicht. Darauf folgten „düstere Jahre“, in denen es den Saboteuren gelang, die Wende zu gefährden, indem sie die Förderung für erneuerbare Energien und für Energieeffizienz unterminierten. Und heute stehen wir an einem Wendepunkt. Wir werden sehen, wie wir unsere neuen Instrumente nutzen müssen, um die Energiewende entschieden herbeizuführen. Ich denke insbesondere an die Ergebnisse der COP 21, an das Konzept „Energiewelt im Wandel“ der EU-Energieunion und an den Juncker-Plan zur Ankurbelung von Investitionen, vor allem aber an die neuen EU-Vorschriften, die die Kommission im November 2016 eingebracht hat, um den Handlungsrahmen bis 2030 festzulegen.

Die Wende ist unumkehrbar. Aber seien wir uns bewusst, dass sie ein Dorn im Auge jener ist, die das drängende Klimaproblem leugnen oder ihre Hegemonie über die Energieversorgung jedes Einzelnen von uns aufrechterhalten möchten.

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