Erneuerbare Energien wie Wind und Solar liefern heute bereits rund 60 Prozent des in Deutschland verbrauchten Stroms. Doch die Art, wie Elektrizität genutzt wird, entstammt fast unverändert dem fossilen Zeitalter. Ideal wäre es, wenn die Kunden ihre Stromverwendung an das fluktuierende Angebot der Öko-Energien anpassen könnten. Das wird bisher kaum gemacht, hat aber enormes Potenzial. Ein Beispiel: Die Batterien von Elektro-Autos könnten künftig auch eingesetzt werden, um Elektrizität zwischenzuspeichern und ins Netz zurückzuspeisen, wenn sie gebraucht wird.
Über diese Flexibilitäts-Option für das Erneuerbare-Stromsystem wird schon länger gesprochen, jüngst hat nun der Stromkonzern Eon die Chancen dafür analysieren lassen. Die Zeit wird langsam reif, sich dem Thema intensiver zu widmen: Die Zahl der reinen E-Autos - ohne Hybrid-Fahrzeuge – hat inzwischen die 1,5-Millionen-Marke überschritten. Damit steht zumindest theoretisch bereits eine stattliche Pufferkapazität zur Verfügung, zumal Autos üblicherweise pro Tag nur rund eine Stunde gefahren werden. Den Rest der Zeit verbinden sie in Garagen oder am Straßenrand. Genau dann könnten sie gewissermaßen als gigantische, virtuell zusammengeschaltete „Schwarmbatterie“ für das Stromnetz zur Verfügung stehen.
Strom für 1,75 Millionen Haushalte
Obwohl erst gute zehn Prozent der 1,5 Millionen E-Autos – nämlich 166.000 – so ausgerüstet sind, dass sie Strom aufnehmen und später wieder zurückspeisen können, kommt damit bereits eine stattliche Kapazität zusammen. Das Fachwort dafür lautet „bidirektionale“ Nutzung; Kürzel: „Bidi“. Eine Schwarmbatterie aus der aktuellen Fahrzeug-Flotte könnte laut der Eon-Kalkulation rechnerisch bereits genug Strom speichern, um 1,75 Millionen Haushalte abends und nachts, das heißt zwölf Stunden lang, mit Energie zu versorgen.
Für die Berechnung wurde die durchschnittliche Batteriegröße der E-Autos von 61 Kilowattstunden zugrunde gelegt und angenommen, dass nachts maximal 60 Prozent der Akku-Kapazitäten flexibel zur Verfügung stehen, damit der Strom morgens noch für die anstehenden Fahrten reicht. Daraus ergibt sich ein Speicherpotenzial für das bidirektionale Laden von knapp 5500 Megawattstunden (Mwh), also 5,5 Millionen Kilowattstunden. Selbst wenn nur ein Viertel der Akkukapazität freigegeben wären, könnten rund 2300 MWh genutzt werden – Eon zufolge genug, um 730.000 Haushalte eine Nacht lang zu versorgen.
Auch wenn man die Kapazität eines einzelnen E-Auto anschaut, ist das Potenzial beeindruckend. Es könnte laut der Modellrechnung mit seiner Batterie abends und nachts rechnerisch mehr als zehn Haushalte versorgen. Dabei ist zugrunde gelegt, dass der Stromverbrauch eines deutschen Durchschnittshaushalts zwischen 17.30 Uhr und 5.30 Uhr rund 3,12 Kilowattstunden beträgt und der E-Pkw in dieser Zeit an eine entsprechend ausgerüstete Wallbox angeschlossen ist, wobei 60 Prozent der Akku-Kapazität freigegeben sind.
Flexibles Laden gegen Netzengpässe
Nicht nur Eon, auch andere Unternehmen haben die Möglichkeiten der Nutzung der E-Auto-Flotte zur Flexibilisierung des Stromnetzes im Blick. Der südwestdeutsche Netzbetreiber Transnet BW zum Beispiel erprobt derzeit in einem großangelegten Versuch das Laden von Elektroautos, um Netzengpässe zu bewältigen. Bei hoher Netzbelastung meldet Transnet BW dies an das Partnerunternehmen Octopus Energy, das daraufhin die Ladevorgänge von bis zu 1500 E-Autos in günstigere Zeiten verschiebt. Die Autofahrer in dem Test profitieren dabei von niedrigen Preisen für den Ladestrom.
Besonders interessant sind laut der Eon-Modellrechnung die positiven Folgen für das Klima. Bei einem künftigen flächendeckenden Einsatz des „Bidi-Ladens“ könnte danach die Nutzung von flexiblen Gaskraftwerken, um Stromknappheit wegen mangelnder Wind- und Solareinspeisung auszugleichen, deutlich heruntergefahren werden. Bereits beim aktuellen „Bidi“-Fahrzeugbestand und einer Freigabe von 60 Prozent der Batteriekapazität würde die verfügbare Energie ausreichen, um 2,9 Millionen Haushalte fünf Stunden lang mit Energie zu versorgen. Das entspreche fast der Leistung von vier großen Gaskraftwerken, die dafür stillstehen könnten. „Fast eine Million Kubikmeter Erdgas und somit 2000 Tonnen CO2 pro solch einem Einsatz könnten so gespart werden“, erklärt der Konzern.
Denkbar, dass bei einer künftigen breiten Anwendung weniger zusätzliche Gaskraftwerke als Mittel gegen die berüchtigten „Dunkelflauten“ gebaut werden müssten. Immerhin soll die Zahl der E-Autos bereits bis 2030 deutlich ansteigen. Die Bundesregierung plant in ihrer Kraftwerksstrategie insgesamt 12,5 Gigawatt an Gaskraftwerken und 500 Megawatt an Wasserstoff-Langzeitspeichern.
Noch fehlen passende Wallboxen
Eon-Chef Filip Thon sieht sich durch die Untersuchung darin bestätigt, wie sinnvoll es sei, „den ohnehin vorhandenen E-Auto-Akku nicht nur für das Fahren, sondern als integrierten Teil unseres Energiesystems zu nutzen“. Zwei Probleme müssen dazu allerdings noch gelöst werden. Erstens muss die gesamte E-Neuwagenflotte mit „Bidi-Laden“ ausgerüstet werden. Denn bisher hatten vor allem Hersteller aus Asien das entsprechende Batteriemanagement angeboten. Und zweitens müssten „bidirektional-fähige“ Wallboxen und intelligente Stromzähler zum Standard werden.
„Bidi“-Wallboxen stehen derzeit erst vor der Markteinführung, der ADAC schätzt, dass sie anfänglich drei-bis viermal teurer sein werden als die üblichen „Stromtankstellen“ für zuhause. Und auch die modernen Stromzähler sind nur wenig verbreitet; erst rund ein Prozent der Haushalte sind damit ausgerüstet.
Laut einer Eon-Umfrage, durchgeführt vom Meinungsforschungsinstitut Civey, gibt es bei diesem Aspekt jedoch großes Potenzial. Denn 79 Prozent der E-Autofahrer mit eigenem Haus zeigten sich darin offen für das bidirektionale Laden. Bei denjenigen, die eine Photovoltaikanlage auf dem Dach haben, waren es sogar 83 Prozent.
Beim bidirektionalen Laden von E-Autos fließt der Strom in zwei Richtungen. Das Fahrzeug bezieht Strom aus dem Energienetz und wird aufgeladen, kann die elektrische Energie aber bei Bedarf in das Hausnetz (Vehicle-to-Home) oder das öffentliche Netz (Vehicle-to-Grid) einspeisen. Dazu braucht es allerdings jeweils einen Zwischenschritt, denn E-Autos fahren mit Gleichstrom, während im Netz Wechselstrom fließt. Die Umformung erfolgt durch Gleich- beziehungsweise Wechselrichter. Um auf diese Weise viele E-Auto- Batterien zu einem „virtuellen Kraftwerk“ zusammenzuschließen, ist dann noch eine intelligente Steuerung nötig. Damit die Technologie bald marktreif ist - Wirtschaftsminister Robert Habeck peilt dafür 2025 an - braucht es aber noch einige politsche und regulatorische Weichenstellungen. So müssen unter anderem Netzentgelte und -zugangsregeln angepasst werden. Auf dem zweiten „Europäischen Gipfel für bidirektionales Laden“, zu dem Habeck Ende Oktober die Branche eingeladen hatte, scheint es indes noch keinen grundlegenden Durchbruch gegeben zu haben.