Im Jahr 1882 eröffnete das erste Kohlekraftwerk der Welt mitten in London. Das Herzstück des von Thomas Edison geplanten und von seiner Firma Edison Electric Light Company betriebenen Werks waren zwei Dampfmaschinen, die jeweils einen 93-Kilowatt-Generator betrieben. Die produzierte Energie reichte aus, um über tausend Glühbirnen von Straßenlaternen, Eisenbahnstationen, Hotels und Geschäften in den umliegenden Straßen zum Leuchten zu bringen.
Das Holborn-Viaduct-Kraftwerk, auch Edison Electric Light Station genannt, musste aufgrund hoher Verluste schon vier Jahre später den Betrieb einstellen und die Laternen wurden wieder auf Gasbeleuchtung umgerüstet. Doch der Siegeszug der Kohlekraftwerke war nicht mehr aufzuhalten – und dauert in manchen Weltregionen bis heute an, obwohl Klimaschützer seit Langem ein sofortiges Aus der fossilen Energiewirtschaft fordern.
Die Geschichte der intensiven Kohlenutzung begann nicht erst mit der Verstromung in Kraftwerken, sondern bereits 200 Jahre zuvor. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts stieg der Bedarf an dem viele Millionen Jahre alten Sedimentgestein allerdings in ungeahnte Höhen.
Ende des 19. Jahrhunderts entstanden zahlreiche Kleinkraftwerke in ganz Großbritannien. Auch in der Lausitz und im Rheinland begann zu dieser Zeit die Stromerzeugung aus Kohle. Mit den Jahren wurden die Wasserkessel und Dampfmaschinen größer und die Generatoren immer leistungsstärker.
CO2-Preis verdrängt Kohle
„Im Laufe des späten 18. und mit Sicherheit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Großbritannien zu einer Kohlekraftwirtschaft“, zitiert die britische Klimaplattform Carbon Brief den Wirtschaftshistoriker Ewan Gibbs. „Es war die erste Wirtschaftsnation der Welt, betrieben mit Kohle.“ Schon 1920 erzeugte Großbritannien vier Milliarden Kilowattstunden Kohlestrom – 97 Prozent des nationalen Strombedarfs.
Doch die Transformation der Energieversorgung schreitet voran: Ende September ging Großbritanniens letztes Kohlekraftwerk Ratcliffe-on-Soar in der nordenglischen Region Nottinghamshire vom Netz. Damit hat sich das Königreich über 140 Jahre lang durch 4,6 Milliarden Tonnen Kohle gebrannt und 10,4 Milliarden Tonnen CO2 in die Atmosphäre ausgestoßen, wie Analysten von Carbon Brief ermittelt haben.
Erst in den 1980er Jahren und dann nochmals zu Beginn der 2010er Jahre erlebte die Kohleverstromung einen Einbruch. Dass Großbritannien den Abschied von der Kohle so gut verkraftet hat, liegt nicht zuletzt an der Erschließung eigener Erdgasvorkommen in der Nordsee. Der steigende CO2-Preis in den letzten Jahren hat das Ende der Kohlekraft dann endgültig besiegelt.
Allerdings wird auf der Insel der Energieverbrauch, nicht nur beim Strom, zu 70 Prozent mit den fossilen Brennstoffen Öl und Gas gedeckt. Damit ist das Vereinigte Königreich kein Einzelfall. In zahlreichen Industrieländern wird das Runterfahren der Kohleverstromung nicht nur mit erneuerbaren Energien, sondern auch mit viel Öl und Gas kompensiert.
Deutschland bezieht seinen Strom immerhin noch zu einem Viertel aus Braun- undSteinkohle. Doch unterm Strich sinkt der Einsatz des CO2-intensivsten Energieträgers in den 38 OECD-Ländern – während er global nach wie vor ansteigt.
Ein Drittel Kohleanteil am globalen Strommix
Weltweit ist Kohle mit über 35 Prozent die wichtigste Stromquelle, gefolgt von Erdgas mit 22 Prozent. Allein letztes Jahr wuchs die Kraftwerkskapazität um 30.000 Megawatt – ein Zuwachs größer als die Leistung aller Kohlekraftwerke Polens. Stillgelegt wurden in derselben Zeit nur 21.000 Megawatt. Und trotz aller guten Absichtserklärungen: Die Gesamtkapazität des globalen Kohlekraftwerksparks ist seit dem Jahr des Pariser Klimaabkommens 2015 um über elf Prozent gewachsen.
Das und vieles mehr kann der umfangreichsten Datenbank über die Kohleindustrie entnommen werden. Die Global Coal Exit List (GCEL) beleuchtet die Geschäftsaktivitäten von 3500 Unternehmen – 1560 Hauptkonzerne und ihre Tochtergesellschaften –, wie es auf der Website heißt.
Seit 2017 wird die Liste von dem Umweltverband Urgewald und 51 weiteren Nichtregierungsorganisationen jeden Herbst, kurz vor der Weltklimakonferenz, aktualisiert. Die Organisationen betrachten dabei die gesamte Wertschöpfungskette für thermische Kohle – von Kohlebergbau über Kohlehandel bis hin zur Verbrennung von Kohle in Kraftwerken.
Weltweiter Ausbau von Kohlegruben
Nicht nur ist die Kohleverstromung und -förderung in den letzten Jahren gestiegen, auch in Zukunft gibt es keine Anzeichen einer Besserung. Kohleminenentwickler planen aktuell einen Ausbau von Kohlegruben mit einer Gesamtkapazität von 2,6 Milliarden Tonnen Kohle pro Jahr. Das entspricht mehr als einem Drittel der gegenwärtigen Weltproduktion.
Ganz vorne dabei ist Indien, wo jährlich 950 Millionen Tonnen neue Kohle gefördert werden sollen, gefolgt von China mit 870 Millionen Tonnen und mit etwas Abstand Australien mit 200 Millionen Tonnen zusätzlicher Kohle. Allein der größte Kohleminenentwickler Coal India plant derzeit 90 neue Kohlegruben oder Erweiterungen bestehender Gruben.
„Künftige Generationen werden nie verstehen, warum diese Branche in den 2020er Jahren weiter expandieren durfte, obwohl die Folgen auf jedem einzelnen Klimagipfel klar benannt wurden“, kommentierte Heffa Schücking, Geschäftsführerin des Umweltverbands Urgewald die Entwicklung.
China setzt weiterhin auf Kohle
Auch neue Kohlekraftwerke entstehen, laut der Global Coal Exit List sind weltweit insgesamt 579.000 Megawatt in Planung. Das entspricht 27 Prozent der bisherigen weltweiten Kohlekraftwerkskapazität.
Der Löwenanteil davon soll in China entstehen. Die zweitgrößte Ökonomie der Welt ist das beste Beispiel dafür, dass der Erneuerbaren-Boom keineswegs mit einem fossilen Ausstieg einhergehen muss. Das Land baue zwei Drittel aller neuen großen Wind- und Solarkraftwerke, so Schücking, und sei gleichzeitig für 68 Prozent der globalen Neubauvorhaben für Kohlekraftwerke verantwortlich. Auch scheint sich die Kohleindustrie bisher keineswegs mit ihrem Ende abgefunden zu haben. Mehr als 95 Prozent der gelisteten Unternehmen haben kein Kohleausstiegsdatum angekündigt.
Auch von den 124 Unternehmen mit Kohleausstiegsplänen liegt das Ausstiegsdatum nur bei gut der Hälfte im nächsten Jahrzehnt. Dabei müssten laut dem Netto-Null-Szenario der Internationalen Energieagentur reiche Länder bis 2030 und alle anderen spätestens 2040 die Kohleverstromung beenden, sofern kein CCSSteht für Carbon Capture and Storage: das Einfangen und dauerhafte Einlagern von CO2. Beim verwandten CCU dient das eingefangene CO2 als Rohstoff für Produkte.Steht für Carbon Capture and Storage: das Einfangen und dauerhafte Einlagern von CO2. Beim verwandten CCU dient das eingefangene CO2 als Rohstoff für Produkte. genutzt wird.
Nur sieben Unternehmen – nicht mal ein halbes Prozent der Kohlebranche – orientieren sich am Pariser Klimaziel. Danach müsste nach dem Ausstieg die Kohle durch erneuerbare Energien ersetzt werden. Stattdessen setzt die überwältigende Mehrheit der Energieversorger mit einem Ausstiegsdatum aber auf Erdgas.
Finanzierung kaum rückläufig
Einige europäische Banken und Fonds haben mittlerweile strengere Regeln eingeführt und streichen Kohleunternehmen peu à peu aus ihrem Portfolio. Der norwegische Pensionsfonds – immerhin weltweit die Nummer 2 unter den Staatsfonds – hat bereits 2015 Investitionen in Unternehmen, die mehr als 30 Prozent ihres Umsatzes mit Kohle machen, beendet. Seither haben die Norweger, deren Geld aus dem Erdöl-Export stammt, allerdings keine weiteren Schritte unternommen. Andere europäische Investoren sind inzwischen weiter. Die dänische Danske Bank, die schwedische Handelsbanken und der norwegische Vermögensverwalter KLP ziehen die Grenze etwa bei fünf Prozent Kohleumsatz.
Bis heute haben laut GCEL erst 89 Finanzinstitutionen Pläne mit konkreten Zeithorizonten erstellt, die in Übereinstimmung mit den Pariser Klimazielen stehen und dafür sorgen, dass die jeweiligen Portfolios nach und nach von Kohleinvestments gesäubert werden.
Die Rechercheorganisation Reclaim Finance untersucht in ihrem „Coal Policy Tracker“, welche Banken, Vermögensverwalter und Versicherungen ein Enddatum der Kohleinvestitionen angekündigt haben. Das Fazit: 80 Prozent haben bisher keinerlei derartige Zusagen getroffen. Im Gegenteil: Einige nordamerikanische Schwergewichte – Bank of America, US Bancorp, Royal Bank of Canada – haben seit Unterzeichnung des Pariser Klimaabkommens vor neun Jahren ihr Investitionsvolumen in die klimaschädliche Branche sogar deutlich erhöht.
Yann Louvel, Leitender Analyst bei Reclaim Finance: „Genau darin liegt das Problem. Wenn die Mehrheit der Finanzinstitutionen diese Unternehmen weiterhin unterstützt, werden wir nicht in der Lage sein, das Kohlezeitalter rechtzeitig zu beenden.“ In Europa fällt die Schweizer Bank UBS vergleichsweise positiv auf. Sie hat seit 2016 die Finanzierung der Branche um 77 Prozent zurückgefahren. Auch die Erste Bank aus Österreich hat ihr Engagement um die Hälfte reduziert.
Deutschlands fleißigster Kohlefinanzierer, die Deutsche Bank, investiert hingegen aktuell noch genauso viel in den klimaschädlichsten Brennstoff wie 2016 – dem Jahr, in dem das Pariser Klimaabkommen in Kraft getreten ist.
Viel Geld von Industriestaaten
Experten sind sich sicher: Gerade auch in den aufstrebenden Entwicklungsländern muss eine fossile Abhängigkeit, ein sogenannter fossiler Lock-in, vermieden werden. Eine kürzlich im Fachjournal Nature erschienene Studie zeigt, dass hinter den neuen Kohlekraftwerken im globalen Süden zum größten Teil Investitionen aus den Industrienationen stecken.
Die Autoren haben die Daten von 908 Kohlekraftwerken weltweit untersucht. 78 Prozent der Investitionen stammen aus Industriestaaten. Bis 2010 floss am meisten Geld aus Deutschland, mittlerweile führt China die Liste an. Fossile Lock-ins sind für Entwicklungsländer nicht nur wegen der Klimakrise ein Problem. Über kurz oder lang werden fossile Ökonomien abgehängt. Die Frage ist schon lange nicht mehr, ob sich erneuerbare Energien durchsetzen, sondern wann.
Ob unter dem designierten Präsidenten Trump die USA das Ende der Kohleverstromung hinauszögern werden, wird sich bald zeigen. In der letzten Legislatur des Republikaners blieb der Abwärtstrend der Kohle – begleitet von einem Aufwärtstrend von Öl und Gas – ungebrochen. Aber das Wahlkampfmantra von Trump „drill, baby, drill“ verspricht nichts Gutes.
Wie langlebig fossile Infrastrukturen sind, zeigt sich dort, wo alles begann: in Europa. Das Kraftwerk in Ratcliffe-on-Soar geht nach stolzen 57 Jahren in den Ruhestand. Und in Deutschland wurde das lange Zeit älteste Kohlekraftwerk in Deuben bei Leipzig 2021 – nach knapp 85 Jahren – stillgelegt.