neue energie: Beim Klima und in der Politik spitzt es sich zu. Das Ziel wurde gerissen, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, während Trump die US-Wahl gewonnen hat, durch Europa ein Rechtsruck geht und in Deutschland die Ampel-Koalition zerbrochen ist. Wie bewerten Sie die Lage?
Claudia Kemfert: Wir erleben schwierige Zeiten. Deshalb werden wir resilienter werden müssen, sowohl politisch, gesellschaftlich, demokratisch als auch technisch und ökonomisch. Das funktioniert am besten mit Klimaschutz, einheimischer Versorgung mit erneuerbaren Energien und mehr Energieeffizienz. Das stärkt die heimische Wirtschaft, bringt Arbeitsplätze und schafft Wertschöpfung.
Uwe Leprich: Ich denke, die Trump-Wahl markiert eine wirkliche Zeitenwende – geostrategisch und klimapolitisch. Der Klimaschutz wird in den Hintergrund treten und die Energietransformation viel stärker durch Wirtschaftsinteressen getrieben sein. Beispiel Texas. Dort geschieht zwar viel bei grünen Technologien, das Interesse an Klimaschutz oder Resilienz ist aber eigentlich nicht vorhanden. Ich glaube deshalb, dass die Energietransformation neu gedacht werden muss.
ne: Wie geht es weiter, wenn Trump US-Präsident ist?
Kemfert: Die Trump-Wahl ist ein Desaster für den internationalen Klimaschutz. Trump will aus dem internationalen Klimaabkommen austreten und es ist zu befürchten, dass er aus der Klima-Rahmenkonvention aussteigen wird. Zudem werden die Amerikaner bei der Klimafinanzierung nicht mehr mitmachen.
ne: Sind Formate wie die Weltklimakonferenz nun von vornherein zum Scheitern verurteilt?
Kemfert: Grundsätzlich nicht, aber von der aktuellen internationalen Klimakonferenz war von vornherein nicht allzu viel zu erwarten. Das lag auch an der Präsidentschaft, die ja gar kein Hehl daraus macht, dass sie im Öl- und Gasgeschäft aktiv ist. Viele Länderchefs waren gar nicht angereist. Wie gesagt, die internationale Klimapolitik sieht sich alles anderem als rosigen Zeiten gegenüber.
Leprich: Ich war 2016 Teil der deutschen Delegation in Marrakesch. Schon damals hatte ich Bauchschmerzen ob des Formats Weltklimakonferenzen. Das Gefühl hat sich aktuell verstärkt. Ich halte diese COPs für einen Anachronismus. Mittlerweile fahren 80 000 Leute aus 200 Ländern hin. Dabei liegt es an fünf oder sechs Ländern, die sich auf weitgehende Maßnahmen zur Dekarbonisierung verständigen müssten. Dann würden die anderen nachziehen. Ich würde bilaterale Gespräche zwischen China und den USA für viel wichtiger erachten.
Kemfert: Man kann das eine tun, ohne das andere zu lassen. Ich fürchte, keiner kommt um diese internationalen Konferenzen herum. Kleine Fortschritte wurden ja erzielt. Es wurde das Paris-Abkommen erzielt, es gibt die NDCs, die nationalen Verpflichtungen, mit denen Ziele für die Länder formuliert werden. Das sollte beibehalten werden. Andererseits stimme ich zu, dass eine Koalition der Willigen, die mehr leisten könnte, absolut sinnvoll wäre. Angesichts der geopolitischen Krisen ist das aber ein schwieriges Unterfangen.
ne: Es ist klar, die USA sind wichtig. Wie dürfte es dort mit dem Inflation Reduction Act weitergehen?
Kemfert: Dass Trump den IRA komplett rückabwickelt, ist eher unwahrscheinlich. Viele republikanische Staaten profitieren davon, eben gerade im Bereich der erneuerbaren Energien. Der grünen Branche stehen dennoch schwere Tage bevor. Wir können aber versuchen, diese Unternehmen zu uns zu holen, dadurch entstünden für uns Wettbewerbsvorteile. Vielleicht können wir aus der Krise eine Chance machen.
ne: Was könnte die EU solchen Firmen bieten?
Kemfert: Bessere Bedingungen durch eine Förderung im Rahmen des EU-Programms der Projects of Common Interest. Auch könnte es mehr Investitionszuschüsse geben. Letztlich muss es darum gehen: Wenn die Rahmenbedingungen in den USA schlechter werden, müssen sie sich in Europa verbessern.
Leprich: Ich mache mir weniger Sorgen um die Handelsbeziehungen zu den USA. Die Situation wird viel mehr durch einen möglicherweise eskalierenden Wirtschaftskrieg mit China belastet. Wir wissen, sowohl im Solar- wie im Windsektor sind wir völlig abhängig von China. Wenn die Beziehungen zwischen Europa und China gekappt werden, dann wäre das für einzelne unserer Branchen sehr übel. Solange für die große geostrategische Auseinandersetzung zwischen den USA und China keine Lösung gefunden ist, herrscht extreme Unsicherheit. Nicht nur für den Erneuerbaren-Sektor, sondern für die europäische Wirtschaft generell.
Kemfert: Das sehe ich ähnlich. Auch in Bereichen wie der Elektromobilität oder bei Rohstoffen wie den seltenen Erden sind wir extrem abhängig. Deshalb müssen wir grundsätzlich unsere Resilienz stärken.
ne: Viele chinesische Unternehmen werden von Peking finanziell unterstützt, was ihnen in ausländischen Märkten Vorteile verschafft. Brüssel will die europäische Erneuerbaren-Branche davor schützen. Ist das grundsätzlich überhaupt machbar?
Leprich: Ein politischer Kurs, der versucht, uns von China unabhängig zu machen, istvon vornherein vollständig zum Scheitern verurteilt. Das gilt für Europa, aber vor allem für Deutschland. Stattdessen sollten wir versuchen, mit China auf unterschiedlichen Ebenen zu kooperieren. Europa ist ein relativ großer Markt mit 450 Millionen Einwohnern. China könnte nicht einfach sagen, uns interessiert nicht, was Europa will. Aber wir müssen hart verhandeln.
Kemfert: Ja, richtig, Handelsbeschränkungen sind aber manchmal nötig, gerade weil der chinesische Staat stark subventioniert und die Unternehmen mit Dumpingpreisen auf den Markt kommen, wie etwa bei Solaranlagen und Elektromobilen. Strafzölle sind aber ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite schützen sie vor Dumpingpreisen, auf der anderen Seite sind sie gefährlich für unsere eigene Industrie, die ja auch nach China exportiert, beispielsweise Autos.
ne: Wir reißen die Klimaschutzziele, globale politische Lösungen bleiben schwierig – worin sehen Sie die Lösung?
Kemfert: Global spricht sehr viel für erneuerbare Energien. Die Kosten sinken kontinuierlich und der Zubau kommt gut voran. Neben dem Bestreben, aus fossilen Energien auszusteigen und die Energieeffizienz zu verbessern, entspricht das eindeutig den Zielen der internationalen Klimaverhandlungen. Die große Hoffnung besteht darin, dass der Markt an dieser Stelle funktioniert. Aber die Rahmenbedingungen müssen stimmen, alle Barrieren müssen abgebaut werden.
ne: Positive Signale gab es auf der COP von Großbritannien: Neue Kohlebergwerke sind dort nun verboten und die Klimaschutzziele wurden geschärft. Weltkonzerne investieren jedoch weiter kräftig in fossile Energien, die der Präsident von Aserbaidschan obendrein als Gottesgeschenk preist. Wir sehen gegenläufige Trends…
Leprich: Ich denke, je mehr die Erneuerbaren ausgebaut werden, desto weniger Business Cases gibt es für Fossile. Es ist klar, Wind- und Solaranlagen sind unschlagbar günstig. Ich würde mir zehnmal überlegen, in ein neues Kohlekraftwerk zu investieren, wenn ich weiß, dass das vielleicht im Jahr von theoretisch möglichen 8760 Stunden nur 2000 bis 3000 Stunden in Betrieb ist. Das wäre dann der Fall, wenn die Erneuerbaren massiv ausgebaut würden.
ne: Es geht allerdings weltweit nicht nur um die Kohle, sondern auch um Erdgas und Erdöl…
Leprich: Wir müssen systemisch an die Erneuerbaren herangehen, die ja natürlichen Schwankungen unterliegen. Und da gibt es drei Joker. Der eine heißt Wasserstoff. Frau Kemfert, Sie haben ihn einmal ‚Champagner der Energiewende‘ genannt. Genau, grüner Wasserstoff ist für viele Geschäftsmodelle viel zu teuer. Ich würde mir wünschen, dass es in zehn, 15 Jahren wirklich einen funktionierenden Weltmarkt dafür gibt, bin aber skeptisch. Das wäre der eine Joker.
ne: Und der zweite?
Leprich: Das sind Speichermöglichkeiten, die so kostengünstig sind, dass sie das Erneuerbaren- System wirklich stützen, wenn es wenig Wind und Sonne gibt. Die Elektromobilität zeigt weltweit, dass die Batterietechnologie sich rasant verbessert und immer kostengünstiger wird. Diese Systemkomponente dürfte schon bald tragfähig sein. Und der dritte Joker ist Erdgas.
ne: Erdgas?
Leprich: Erdgas brauchen wir als Brücke, um längere Phasen einer Dunkelflaute abzudecken und auch für bestimmte Industrieprozesse, solange grüner Wasserstoff nicht zu konkurrenzfähigen Preisen verfügbar ist. In erster Linie geht es aber um das Thema Versorgungssicherheit, Politiker haben das immer ganz weit oben auf der Agenda. Es könnte also sein, dass Erdgas hier noch länger eine Rolle spielen wird, als wir uns das derzeit vorstellen. Dabei stellt sich dann die Frage, wo das Gas herkommt. Dreckiges Frackinggas sollte es jedenfalls nicht sein.
Kemfert: Da will ich unmittelbar widersprechen. Fossiles Erdgas ist keine ‚Brücke‘ mehr. Vielleicht vor 20 Jahren. Heute muss der Bedarf deutlich sinken. Erdgas ist teuer und nur etwas für den Ausgleich in Spitzenlastzeiten. Aber auch dort wird der Bedarf zurückgehen, wenn immer mehr Ökostrom zum Einsatz kommt – in der Elektromobilität, auf der Schiene und beim Heizen für die Wärmepumpe. Wir sollten jetzt keine Fehlanreize setzen. Wir sehen es ja, aktuell müssen wir immer noch Erdgas teuer importieren. Auf keinen Fall sollten wir neu bohren, schon gar nicht in der Tiefsee oder in Deutschland. Vielmehr braucht es schnell eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien.
Leprich: Zwei Anmerkungen: Im Saarland wird die Stahlindustrie umgebaut. Für Investitionen in Direktreduktionsanlagen auf Basis von Wasserstoff gab es Subventionen in Höhe von 2,6 Milliarden Euro. Wir wissen aber, dass es so schnell die nötigen Mengen grünen Wasserstoff nicht geben wird, schon gar nicht zu konkurrenzfähigen Preisen. Also sagt die Stahlindustrie: Das werden wir mit Erdgas überbrücken. Zweitens wollen wir schnell aus der Kohleverstromung raus. Deshalb hat es die Ausschreibung für wasserstofffähige Gaskraftwerke mit einer Leistung von 13 Megawatt gegeben. Ich halte das für vernünftig, wobei niemand heute voraussagen kann, wann der Erdgaseinsatz in diesen Kraftwerken durch bezahlbaren, grünen Wasserstoff ersetzt werden kann. Aber das Ziel der Versorgungssicherheit mit Strom steht aktuell meines Erachtens ganz klar über dem Ziel einer vollständigen Dekarbonisierung der Stromerzeugung in Deutschland.
Kemfert: Versorgungssicherheit darf doch nicht gegen Klimaschutz ausgespielt werden! Beides geht zusammen. Über das Argument, wir bräuchten noch über Jahrzehnte hinweg fossiles Erdgas, freut sich übrigens Putin sehr. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass erneuerbare Energien einen ganz schnellen Hochlauf erleben, um schnell grünen Wasserstoff gerade auch hier in Deutschland zu produzieren. Das wäre nicht nur möglich, sondern würde Wertschöpfung und Arbeitsplätze bringen, wie unsere Studie zeigt. Zudem ist nichts dagegen einzuwenden, der Stahlindustrie finanziell zu helfen. Wir sollten aber auf keinen Fall in neue Gaskraftwerke investieren. Die vorhandenen Kapazitäten reichen aus.
Leprich: Wenn wir ausreichend konkurrenzfähigen grünen Wasserstoff und konkurrenzfähigen grünen Strom für die Stahlindustrie bereitstellen wollen, dann sprechen wir jedes Jahr von Hunderten von Millionen Euro Subventionen. Ich sehe nicht, dass wir das stemmen können. Wenn wir also die Industrie dekarbonisieren wollen, stellt sich die heikle übergeordnete Frage, welche Branchen wir in Deutschland halten wollen. Die sollten auf Dauer ohne Subventionen konkurrenzfähig sein. Bei einigen deutschen Stahlstandorten hätte ich dann meine Zweifel.
Kemfert: Es gibt Beispiele wie Bremen oder Hamburg, die ganz gezielt eine Umstellung auf grünen Stahl mit selbst hergestelltem Wasserstoff fördern. Wir zahlen in Deutschland jedes Jahr 58 Milliarden Euro Subventionen in den fossilen Sektor, acht Milliarden Euro allein für die Dieselsteuererleichterung. Bei Wasserstoff sprechen wir über Investitionen für die nächsten Jahrzehnte. Das sollte uns mehrere 100 Millionen Euro wert sein. Wir müssen beim Umstieg auf erneuerbare Energien nur konsequent sein.
ne: Mittlerweile sind wir bei der deutschen Situation angekommen. Herr Leprich beschreibt die aktuellen realpolitischen Entwicklungen und Sie, Frau Kemfert, plädieren dafür, das Maximalziel mit einer Erneuerbaren-Vollversorgung zu fokussieren...
Kemfert: Die Rolle von Wissenschaft ist, unsere Erkenntnisse zur Verfügung zu stellen und daraus Handlungsempfehlungen abzuleiten. Wir müssen dabei einfach erkennen, dass wir bei heute getroffenen Fehlentscheidungen weitere Jahrzehnte an fossile Energien gebunden sein werden. Wir wissen aus der Vergangenheit, wie teuer das werden kann. Für Fehlentscheidungen haben wir aber keine Zeit mehr.
ne: Ich würde das auf den aktuellen Entwurf des Kraftwerkssicherheitsgesetzes anwenden. Darin wird auf Erdgas in Kombination mit Abspaltung und Speicherung von CO2, also CCSSteht für Carbon Capture and Storage: das Einfangen und dauerhafte Einlagern von CO2. Beim verwandten CCU dient das eingefangene CO2 als Rohstoff für Produkte.Steht für Carbon Capture and Storage: das Einfangen und dauerhafte Einlagern von CO2. Beim verwandten CCU dient das eingefangene CO2 als Rohstoff für Produkte., gesetzt. Sie, Frau Kemfert, warnen vor diesem Weg.
Kemfert: Absolut richtig. Ich halte es für komplett falsch, CCSSteht für Carbon Capture and Storage: das Einfangen und dauerhafte Einlagern von CO2. Beim verwandten CCU dient das eingefangene CO2 als Rohstoff für Produkte.Steht für Carbon Capture and Storage: das Einfangen und dauerhafte Einlagern von CO2. Beim verwandten CCU dient das eingefangene CO2 als Rohstoff für Produkte. im Kraftwerksbereich anzuwenden, dies verlängert unnötig den Einsatz von fossilem Erdgas. Wenn überhaupt CCSSteht für Carbon Capture and Storage: das Einfangen und dauerhafte Einlagern von CO2. Beim verwandten CCU dient das eingefangene CO2 als Rohstoff für Produkte.Steht für Carbon Capture and Storage: das Einfangen und dauerhafte Einlagern von CO2. Beim verwandten CCU dient das eingefangene CO2 als Rohstoff für Produkte., dann nur für unvermeidbare Restemissionen im Industriebereich. Es muss um Emissionsvermeidung statt Verpressung gehen.
ne: Umso brisanter ist, wie eine eventuell CDU-geführte Regierung sich verhalten wird...
Leprich: Ich wäre schon sehr zufrieden, wenn die neue Regierung an dem Ziel festhielte, dass bis 2030 insgesamt 80 Prozent des Stroms aus Erneuerbaren-Quellen kommt. Dann würde ich mir auch keine großen Sorgen um den Einsatz von Erdgas machen. Wenn so ein Kraftwerk nur bei Dunkelflauten in Betrieb ist, wäre das zu vernachlässigen. Und die Auslastung steht und fällt mit dem Ausbau der Erneuerbaren und der Speicher. Ohnehin hilft es nichts, beim Klimaschutz dogmatisch zu sein. Ob wir in Deutschland Klimaneutralität einige Jahre früher oder später erreichen, ist global gesehen ziemlich egal. Wichtig ist allein, dass andere Länder uns nur dann als Vorreiter sehen, wenn wir ein Energiesystem etablieren, das funktioniert, bezahlbar ist und deshalb breit akzeptiert wird.
ne: Davon sind wir aber in allen Bereichen, auch bei Mobilität und Gebäuden, weit entfernt…
Leprich: Deshalb wäre ich sehr froh, wenn man im Bereich der Heizungen einen neuen Anlauf machen würde. Es ist nicht sinnvoll, jedem der 42 Millionen Haushalte hierzulande die Entscheidung aufzubürden, wann seine Heizung durch welche Technologie zu ersetzen ist. Es braucht eine Zwischeninstanz, die die Wärmewende in die Hand nimmt und von der Beratung und der Beschaffung über die Finanzierung bis hin zur Wartung der Heizungslösungen entsprechende Angebote macht. Das können eigentlich nur die Stadtwerke sein, die auf Basis einer kommunalen Wärmeplanung in den einzelnen Stadtquartieren über Nahwärmenetze oder gebäudenahe Heizungslösungen wie Wärmepumpen Richtungsentscheidungen treffen. Auf diese Weise wäre die Wärmewende in zehn, 15 Jahren umgesetzt.
Kemfert: Beim 80-Prozent-Ziel stimme ich zu. Die Union will das ja auch, genauso wie sie an der Klimaneutralität bis 2045 festhält, obwohl wir die eigentlich schon bis 2038 bräuchten. Ich vertraue da durchaus auf den Markt. Wir haben gerade eine Studie erstellt, in der wir zeigen, dass die Flexibilitätsoptionen massiv unterschätzt werden. Wir dürfen dabei auch den Beitrag von Biogas und Wasserkraft nicht vergessen. Wenn wir das alles inklusive der bestehenden Reservekraftwerke in den Markt integrieren und richtig auslasten, brauchen wir keine riesigen Mengen an zusätzlichen fossilen Erdgaskraftwerken. Das andere Thema ist das Verbrenner-Aus.
ne: Womit wir bei der Mobilität wären…
Kemfert: Die Frage nach der Union war ja gestellt. Ich halte es für fatal, dass man diese Diskussion wieder aufleben lässt und noch mehr Verunsicherung in eine schon verunsicherte Autoindustrie hineinbringt. Wir brauchen ein klares Bekenntnis zur Elektromobilität. Dahin geht der Markt ohnehin weltweit. Wenn wir der Autoindustrie nicht noch mehr schaden wollen, brauchen wir klare Rahmenbedingungen und nicht das Aufkündigen bereits beschlossener Ziele. In China ist derzeit jedes zweite neu zugelassene Auto ein E-Mobil. Die deutsche Automobilindustrie braucht also keine rückwärtsgewandten Entscheidungen. Und kurz zum Heizungsgesetz – das ist besser als sein Ruf. Niemand hat jemals gesagt, dass nur noch Wärmepumpen eingesetzt werden müssten und Öl und Gas sofort weg sollen. Das war ein kommunikatives Desaster. Ich fürchte, und das sehe ich jetzt hier sehr stark wieder, es werden alle Buzzwords der Desinformationskampagne wiederholt, die sich offensichtlich eingebrannt haben, die aber die Regierung in diesem Gesetz gar nicht so formuliert hat. Vielmehr geht es darum, den Anteil der erneuerbaren Energien bei neuen Heizungen auf 65 Prozent zu erhöhen. Das würde Nahwärmenetze ermöglichen und auch Anreize schaffen, alte Heizungen auszuwechseln. Wenn die Union alles zurückdreht, entstehen viel zu viele Unsicherheiten.
Leprich: Noch einmal kurz zurück zum Markt, der hat noch nie eine Rolle gespielt für weitreichende Entscheidungen im Energiesektor. Marktersatz schon. Ich kann mir vorstellen, dass wir im Bereich Versorgungssicherheit mit Ausschreibungen ermitteln, mit welchen Technologien wir Dunkelflauten abdecken. Wenn dabei Flexoptionen wie etwa Großbatteriespeicher gewinnen, gut, wenn Gasturbinen gewinnen, auch gut. Im Verkehrsbereich würde ich dem Markt hingegen mehr vertrauen. Die EU hat für 2035 ein Verbrennerverbot erlassen. Das hat der Weltmarkt aber schon entschieden. Wir hängen dem Irrglauben nach, dass wir in Deutschland, in Europa im globalen Automobilmarkt noch etwas zu sagen haben. Wir sitzen aber nicht mehr im Driver‘s Seat, die Entscheidung ist in China, dem größten Automarkt der Welt, bereits gefallen. Punkt. Die haben sich für Elektromobilität entschieden. Ein Konzern, der nicht auf diesen Zug aufspringt, hat einfach den Schuss nicht gehört. Insofern käme es auch beim faktischen EUVerbrennerverbot für mich nicht auf zwei oder drei Jahre an.
Kemfert: Es geht ja gar nicht um ein Verbot, sondern um die Senkung der Emissionsgrenzwerte. Und ich halte es für extrem wichtig, dass die im europäischen Rahmen erhalten bleiben, um faire Marktbedingungen zu etablieren. Das ist ja die Diskussion, die derzeit in Europa geführt wird. Aber ja, ich hatte es schon gesagt, der Markt hat längst entschieden. Insofern ist das Hü und Hott der Politik hoch problematisch. Den Menschen wird indirekt suggeriert, alles geht noch eine gewisse Zeit so weiter. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Union den Klimaschutz über einen steigenden CO2-Preis regeln will. Den Verbrauchern wird aber nicht erklärt, dass damit der Benzinpreis massiv nach oben geht. Ohne das Klimageld, auf das wir noch immer warten, wird Autofahren dann so oder so unerschwinglich.
Leprich: Wenn das ‚Verbrennerverbot‘ 2035 nicht käme, bin ich sicher, würde das VW nicht interessieren. Volkswagen hat die Weichen für sich gestellt. BMW und Daimler würden aber sagen: Dann haben wir mehr Zeit, unsere Premium Verbrennermodelle, die Cash Cows, weiter zu produzieren und uns parallel bei den Premium-Elektromobilen zu positionieren. Ich sage das vor dem Hintergrund der schwierigen Situation, dass sich Europa wirtschaftspolitisch in einem Schraubstock befindet. Von zwei Seiten erleben wir eine enorm aggressive Industriepolitik. China betreibt sie seit vielen Jahren mit einer schwindelerregenden Weitsicht. Und dann sind da die USA mit dem Inflation Reduction Act, mit dem Unternehmen in Europa entweder aus dem Markt gedrängt oder abgeworben werden. Der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank Mario Draghi hat eindringlich gemahnt, dass wir schnell ganz viel Geld in die Hand nehmen müssen, um in Europa die Transformation zu schaffen, um eine Chance zu haben gegen diese aggressiven Industriepolitiken. Angesichts dieser Herausforderung kommt es mir beim Verbrenner – aktuell immer noch eine wesentliche Säule der europäischen Wirtschaft – nicht auf ein in Stein gemeißeltes Ausstiegsjahr an.
Kemfert: Gerade beim Green Deal geht es in Europa um politisch hochkomplexe Entscheidungen. Wenn die aufgeweicht werden, öffnet man Tür und Tor für Akteure, die das alles wieder zurückdrehen wollen. Dann ist auch der Industrie nicht geholfen. Ich stimme dem Draghi-Report zu: Es geht um eine komplexe Situation. Da sind wir schnell bei der Auto oder Stahlbranche, denen finanziell massiv geholfen werden muss, damit sie auf erneuerbare Energien und Energieeffizienz umsteigen. Deshalb müssen wir die Vereinbarungen einhalten.
Leprich: Da haben wir einen Dissens. Wenn die EU-Kommission sich konstituiert hat, werden diese Zieljahre sicher angegangen, es gibt dazu ja bereits Andeutungen von Frau von der Leyen. Wir werden auf europäischer Ebene angesichts der beschriebenen internationalen Herausforderungen nicht einfach so weitermachen können, als hätte sich nichts verändert. Und ich sehe die Folgen, die durch ein Verschieben einiger Zieljahre auftreten können, auch nicht als dramatisch an.
Kemfert: Ich sehe es genau umgekehrt. Es wäre sinnvoll, auf die internationalen Herausforderungen zu reagieren, indem wir die Projects of Common Interest finanziell sehr viel stärker unterstützen und unsere Ziele beibehalten. Sie aufzukündigen bringt nur Planungsunsicherheit, was die Industrie aktuell nicht braucht. Wie gesagt, wir können so auch Unternehmen unterstützen, die in den USA keine guten Rahmenbedingungen mehr vorfinden. Ganz abgesehen davon, dass wir ungebremst in eine Klimakatastrophe hineinrennen. Wir sollten gerade in Europa aus vielen unterschiedlichen Gründen zusammenhalten, aus demokratischer Sicht, klimapolitischer Sicht, geostrategischer Sicht. Dann haben wir auch Einfluss auf politische Entscheidungen. Deshalb ist der Green Deal ein wichtiger Rahmen, den wir nicht aufkündigen dürfen.
leitet seit 2004 die Abteilung „Energie, Verkehr, Umwelt“ am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), hält seit 2020 eine Professur für Energiewirtschaft und Energiepolitik an die Leuphana Universität Lüneburg und ist Co-Vorsitzende des Sachverständigenrats für Umweltfragen.
unterrichtet an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes in den Fächern Wirtschafts-, Energie- und Umweltpolitik. Von April 2016 bis März 2018 leitete er am Umweltbundesamt in Dessau die Abteilung Klimaschutz und Energie.
Dies ist eine gekürzte Fassung des Interviews. Der vollständige Text ist in Ausgabe 12/2024 von neue energie erschienen.