Die eigene Regierung bereits in jungen Jahren zum zweiten Mal zu verklagen sei nicht schön – aber leider notwendig, sagte Klimaaktivistin Luisa Neubauer, als sie sich mit dutzenden Mitstreitern zum Fotoshooting vor dem Bundeskanzleramt traf. Die 28-Jährige gehört zu den über 54 000 Menschen, die Greenpeace und Germanwatch binnen zehn Wochen hinter einer „Zukunftsklage“ versammeln konnten. Am 16. September trudelte der 180-seitige Schriftsatz beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein. Autorin ist die Rechtsanwältin Roda Verheyen, die bereits 2021 das historische Urteil des höchsten Gerichts miterwirkt hatte (neue energie 06/2021).
Damals hatten die Richter mit den roten Roben Klimaschutz zum Staatsziel erhoben und klargestellt, dass das wissenschaftlich errechnete CO2-Budget der gesetzliche Maßstab dafür sein muss. Bahnbrechend wirkte das Urteil aber vor allem, weil der Erste Senat das Grundrecht auf Freiheit auf die Zukunft ausweitete. Staatliches Handeln darf die Lasten nicht auf künftige Generationen abwälzen und damit deren Entscheidungsspielraum einschränken, entschied das Gericht.
Mehr Treibhausgase als zulässig
Die neue Klage richtet sich nun gegen das im Frühjahr vom Bundestag novellierte Klimaschutzgesetz (KSG). Es erlaube mehr Treibhausgase als die Verfassung zulässt, argumentiert Verheyen. Zwar enthält die Neufassung die gleichen Ziele wie das Vorgängergesetz, das vor fünf Jahren von der großen Koalition verabschiedet wurde: Bis 2030 müssen die Emissionen im Vergleich zum Jahr 1990 um 65 Prozent sinken; bis 2040 müssen 88 Prozent geschafft sein. Doch durch die Belastungen der vergangenen Jahre und neue wissenschaftliche Erkenntnisse ist der Spielraum geschrumpft und die Dringlichkeit für geschärfte Maßnahmen gewachsen.
So hat etwa der Sachverständigenrat für Umweltfragen im März seine Berechnungen aktualisiert. Lege man eine international gerechte Verteilung der noch übrigen Klimagaskontingente zugrunde, um die Erderhitzung auf 1,5 Grad zu begrenzen, sei das deutsche CO2-Budget inzwischen aufgebraucht, konstatiert Wolfgang Peter Lucht, Professor am Potsdam Institut für Klimafolgenforschung und an der Berliner Humboldt Uni: „Inzwischen ist unausweichlich, dass wir mehr ausstoßen, als uns zusteht, wenn wir unseren Anteil an der Weltbevölkerung zugrunde legen.“
Ziele werden verfehlt
Auch der Expertenrat für Klimafragen hat im Juni ein Sondergutachten vorgelegt, das der Bundesregierung ein schlechtes Zeugnis ausstellt und damit der Verfassungsklage Rückenwind gibt. Die projizierten Emissionen in den Bereichen Energie, Gebäude und Verkehr würden unterschätzt, schreibt das Gremium und geht deshalb von einer „Zielverfehlung“ aus. Verantwortlich dafür seien unter anderem die Kürzungen im Klima- und Transformationsfonds, aber auch veränderte Markterwartungen für Gaspreise. Die Vizevorsitzende Brigitte Knopf wird sogar noch grundsätzlicher: „Insgesamt fehlt für die Zeit nach 2030 eine langfristige Strategie, wie das Ziel der Treibhausgasneutralität erreicht werden kann.“
Doch statt das KSG zu verschärfen hat die Bundesregierung dem Gesetz den wirkungsvollen Mechanismus entzogen, mit dem sich Minister und ihre Ressorts unter Druck setzen ließen: jährliche Emissionshöchstwerte für Energiewirtschaft, Industrie, Verkehr, Gebäude, Landwirtschaft und Abfall, in Verbindung mit einem- Zwang zu Sofortmaßnahmen bei Zielverfehlung. Während es bei Industrie und Energie in den vergangenen Jahren deutlich vorwärts gegangen ist, sieht es vor allem in den Bereichen Gebäude und Verkehr düster aus. Im Frühjahr meldete das Umweltbundesamt etwa ein Plus der CO2-Emissionen beim Güterverkehr von 21 Prozent im Vergleich zum Jahr 1995.
Vor allem auf Druck von FDP-Verkehrsminister Volker Wissing hat die Ampel-Koalition das KSG aufgeweicht. Nun sollen die Einsparungen aller Ressorts gegeneinander verrechnet und die Ziele im Gesamtpaket erreicht werden. Dagegen richtet sich der zweite Punkt der „Zukunftsklage“. Die Novelle sei „verfassungswidrig, weil sie die Senkung von Emissionen faktisch in die Zukunft verschiebt und die Einhaltung der Ziele bis 2030 und danach nicht gewährleistet“, argumentiert Verheyen.
Der dritte Teil der von Greenpeace und Germanwatch organisierten Klage bezieht sich denn auch auf den Verkehrsbereich. Aus formaljuristischen Gründen wurde er von fünf Personen mit niedrigem Einkommen eingereicht, die sich durch „Mobilitätsarmut“ bedroht sehen. Eine Klägerin ist körperbehindert, die anderen wohnen auf dem Land. Weil die heutige Tatenlosigkeit demnächst zu einer radikalen Beschränkung von Verbrennerautos und hohen Benzinpreisen führen wird und die Betroffenen sich keine teuren E-Autos leisten können, verstoße die Bundesregierung nicht nur gegen das Freiheitsrecht in Artikel 2 des Grundgesetzes, sondern auch gegen den Gleichheitssatz in Artikel 3, argumentiert Rechtsanwältin Verheyen.
Auch Greenpeace und Deutsche Umwelthilfe klagen
Bereits am 17. Juli, als das Gesetz in Kraft trat, hatte die Deutsche Umwelthilfe (DUH) zusammen mit zwölf jungen Menschen Verfassungsbeschwerde eingelegt. Auch der Bund für Umwelt und Naturschutz geht gemeinsam mit dem Solarenergie-Förderverein und vier Einzelpersonen gegen das KSG vor. Ob das Bundesverfassungsgericht die Klagen allerdings annimmt und wann gegebenenfalls mit einer Entscheidung zu rechnen ist, ist unklar.
Möglich ist auch, dass das Gericht eine mündliche Verhandlung anberaumt. Mit einer grundsätzlichen Zurückweisung rechnet jedoch kaum jemand, obwohl das Gericht in den vergangenen drei Jahren mehrere Klimaklagen nicht zur Verhandlung zugelassen hatte. Dieses Mal jedoch tauchte das Thema DUH und Klima bereits in der Jahresvorschau des obersten Gerichtshofs der Bundesebene auf.
230 Klimaklagen weltweit
Auch in anderen Ländern beschäftigen sich immer mehr Gerichte mit Klimaklagen. Allein 2023 verzeichnete die Datenbank der London School of Economics 230 neue Fälle, erstmals auch aus Portugal und Panama. Als wegweisend gilt ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg. Auf Betreiben einer Gruppe von 2000 Seniorinnen wurde die Schweiz im April wegen mangelnden Klimaschutzes verurteilt. Das Land missachte die Menschenrechte der Klägerinnen, so der Kern des Urteils. Auch wenn es wohl in keinem Lebensalter schön ist, das eigene Land zu verklagen, kann es doch erfolgreich sein.