neue energie: Der Wasserstoffmarkt in Europa kommt langsam in Bewegung. Wo stehen wir derzeit – und welche Schritte sind noch nötig, um das volle Potenzial auszuschöpfen?
Dr. Sopna Sury: Wir stehen am Anfang eines langen Transformationsprozesses. Der anfängliche Hype um Wasserstoff ist einer neuen Sachlichkeit gewichen. Was jetzt zählt, ist stetiger Fortschritt. Erfreulich ist, dass in Europa und Deutschland bereits erste wichtige Weichen gestellt wurden: die Festlegung der EU-Grünstromkriterien, die Förderzusagen im IPCEI-Rahmen und die gesetzliche Grundlage für das Wasserstoff-Kernnetz in Deutschland zum Beispiel. Erste Projekte von Elektrolyseuren über Speicher bis hin zu konkreten Abnahmeverträgen belegen, dass es vorangeht – aber langsam, viel zu langsam. So sind wir noch weit von den 10 Gigawatt Elektrolyse-Leistung entfernt, die die Bundesregierung bis 2030 als Ausbauziel ausgegeben hat. Unternehmen haben bislang erst Investitionsentscheidungen für etwas mehr als 1 Gigawatt getroffen. Grund ist vor allem die schleppende Wasserstoffnachfrage. Jetzt kommt es darauf an, die vielen Investitions-Hürden zu beseitigen und den Wasserstoffhochlauf über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg anzustoßen.
Wie weit ist Deutschland in der Produktion, dem Transport und der Nutzung von Wasserstoff? Wo gibt es Fortschritte und wo besteht Nachholbedarf?
Dr. Sopna Sury: Bei der Produktion sind Fortschritte erkennbar – etwa bei unserem GET H2 Nukleus in Lingen, Shells REFHYNE-Anlagen in Wesseling oder Hy4Chem von BASF in Ludwigshafen. Auch bei der Transport-Infrastruktur geht es voran: Erste Teilstücke des Wasserstoff-Kernnetzes sind im Bau, etwa in Nordhorn. Andere sind in Planung – abhängig vom Bedarf. Erheblichen Nachholbedarf sehe ich allerdings bei der Nutzung. Die Wasserstoffnachfrage ist nach wie vor sehr niedrig. Was nicht verwundert, denn regulatorische Unsicherheiten, fehlende Infrastruktur und hohe Wasserstoff-Kosten im Vergleich zu fossilen Alternativen lassen Abnehmer vor langfristigen Verträgen zurückschrecken. Besonders kritisch sehe ich den Umstand, dass Markt und Politik das volle Risiko auf die Erzeuger legen, während für die Abnehmer wirksame Anreize für den Einsatz von grünem Wasserstoff fehlen.
Welche Rolle spielt dabei der Aufbau nationaler und internationaler Wasserstofflieferketten?
Dr. Sopna Sury: Ein funktionierender Wasserstoffmarkt braucht integrierte Lieferketten – national und international. Ohne verlässliche Transport- und Speicherinfrastruktur sowie stabile Abnahmeverträge bleibt der Markt fragmentiert. Wasserstoff muss dort produziert werden, wo es erneuerbare Energien im Überfluss gibt, und dahin transportiert werden, wo er gebraucht wird – vorrangig in der Industrie. Deutschland hat mit dem Aufbau des Kernnetzes begonnen, aber es wird Jahre dauern, bis Elektrolyseure, Speicher und Industrieanlagen über Leitungen verbunden sind. Darum sind Übergangslösungen wichtig – etwa durch dezentrale Abfüllanlagen, die die grünen Moleküle per Tankwagen zum Abnehmer bringen. Gleichzeitig könnten grenzüberschreitende Partnerschaften die Versorgungssicherheit in Deutschland erhöhen. Nationale Cluster, die Produktionsstätten, Pipelines und Speicheranlagen und Nutzer integrieren, sollten gezielt gefördert werden. Sie werden das Rückgrat der Wasserstoffwirtschaft bilden.
Die EU-Kommission finalisiert aktuell einen delegierten Rechtsakt zu Low Carbon Hydrogen, der die Kriterien für die Einstufung von Wasserstoff als kohlenstoffarm festlegt. Als Aufsichtsratsvorsitzende von Hydrogen Europe haben Sie sich für eine Lockerung des Rechtsakts ausgesprochen. Warum ist das nötig und welche Auswirkungen hätte dies auf Wirtschaft, Unternehmen und Projektentwickler?
Dr. Sopna Sury: Der delegierte Rechtsakt zu „Low Carbon Hydrogen“ ist ein entscheidendes Instrument, um Investitionen in Wasserstoffprojekte mit CO₂-Abscheidung und -Speicherung (CCSSteht für Carbon Capture and Storage: das Einfangen und dauerhafte Einlagern von CO2. Beim verwandten CCU dient das eingefangene CO2 als Rohstoff für Produkte.) zu ermöglichen. Eine zu strenge Auslegung hätte den Markt de facto auf grünen Wasserstoff begrenzt – und damit Investitionen in blauem Wasserstoff verhindert. Das wäre ein herber Rückschlag für den Aufbau einer funktionierenden Wasserstoffwirtschaft in Europa, denn für die Auslastung von Infrastruktur braucht es jedes, farbenblinde, Wasserstoffmolekül. Hierfür sind auch Wasserstoffmengen über die Dampfreformierung von Methan bei anschließender CO₂-Abscheidung zentral. Gerade im industriellen Maßstab braucht es kurzfristig skalierbare Lösungen, um Nachfrage zu bedienen und Infrastrukturen auszulasten. Low Carbon Hydrogen, als blauer oder elektrolytisch hergestellter Wasserstoff, kann eine Brücke sein, bis ausreichend grüner Wasserstoff zur Verfügung steht.
Was ist jetzt entscheidend für den Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft? Welche konkreten Erwartungen haben Sie an die EU und die Bundesregierung?
Dr. Sopna Sury: Für den Markthochlauf braucht es jetzt Geschwindigkeit und stabile Rahmenbedingungen. Die größten Herausforderungen sehe ich nicht bei der Technik, sondern in der Regulierung, in der Bürokratie und in den widersprüchlichen Marktsignalen. Drei Punkte möchte ich hervorheben:
Erstens klare und verlässliche Rahmenbedingungen. Dabei denke ich an einfache Zugangskriterien zu Förderprogrammen und Rechtssicherheit bei Zertifizierungsfragen. Zudem braucht es zügig Klarheit bezüglich der Ausschreibungen für wasserstofffähige Gaskraftwerke.
Zweitens braucht es starke Nachfrageimpulse, ausgelöst zum Beispiel durch gezielte Förderungen auf der Abnehmerseite, durch Unterquoten für grünen Wasserstoff in der Industrie oder durch Contracts for Difference (CfDSteht für Contracts for Difference (Differenzverträge): Erhält ein Stromerzeuger bei Ausschreibungen für sein Preisangebot den Zuschlag, kriegt er bei einem niedrigeren Börsenpreis die Differenz erstattet. Liegt der Börsenpreis höher, muss er die zusätzlichen Gewinne abgeben.).
Und last but not least brauchen wir Tempo bei den Genehmigungsprozessen. Gerade für die Transport- und Speicherinfrastruktur muss die Zeit zwischen Antrag und Genehmigung verkürzt werden.
Von der EU erhoffe ich mir einen mutigen industriepolitischen Ansatz, der den Standort Europa wettbewerbsfähig hält. Und von der neuen Bundesregierung wünsche ich mir, dass sie den europäischen Rahmen ambitioniert und vor allem pragmatisch in deutsches Recht umsetzt. Weniger komplex, aber mit dem klaren Ziel, einem funktionierenden Wasserstoffmarkt bis 2030 dem Weg zu bahnen.