neue energie:: Welche Herausforderungen stellt dieser Transformationspfad an die Industrie?
Charlotte Senkpiel: Mit unserem Energiesystemmodell REMod berechnen wir Transformationspfade für ein klimaneutrales Energiesystem bis 2045. Bis 2030 erwarten wir einen deutlichen Anstieg des Stromverbrauchs und große Veränderungen in der Industrie, um dieses Ziel zu erreichen. Der Einsatz von Erdgas spielt derzeit noch eine wichtige Rolle bei der Energieversorgung der Industrie. Hier wird ein Wandel stattfinden müssen, vielfach hin zu einem verstärkten Einsatz von Strom. Da die CO2-Emissionen reduziert werden müssen, wird die CO2-Abgabe eine immer wichtigere Preiskomponente darstellen und den Einsatz von Strom attraktiver machen. Neben der direkten Elektrifizierung wird auch der Einsatz von Wasserstoff eine Lösung sein – in komplexen Prozessanwendungen wie wasserstoffbasierten Direktreduktionsverfahren in der Stahlerzeugung.
ne: Mit unterschiedlichen Strategien, Technologien und Prozessen ergreifen Industrieunternehmen zunehmend Maßnahmen zur Dekarbonisierung. Welche Hürden bestehen bei der Umsetzung, welche Alternativen sind zukünftig zu berücksichtigen?
Senkpiel: Im Forschungsprojekt IND-E haben wir Interviews und eine Umfrage mit vielen Unternehmen durchgeführt. Viele planen bereits eine Klimaneutralitätsstrategie – mit Fokus auf Elektrifizierung, Investitionen in Wind- und PV-Anlagen, PPAs oder Grünstrombezug aus dem Netz. Auch Effizienz spielt eine große Rolle. Bei der Umsetzung gibt es jedoch technische, finanzielle, regulatorische und organisatorische Herausforderungen. Besonders wichtig sind für die Unternehmen die kostengünstige Verfügbarkeit von Grünstrom und ausreichende Netzanschlusskapazitäten.
ne: Der Industriestrompreis ist eines der wichtigsten Themen für die neue Regierung. Deutschland und Europa haben relativ hohe Industriestrompreise – im Gegensatz etwa zu den USA, Kanada und Japan. Die Daten der IEA belegen dies. Ein Wettbewerbsnachteil für energieintensive Industrieprozesse. Welche Lösungen sind nötig für eine klimaneutrale
Transformation der Industrie?
Senkpiel: Unternehmen sehen den Industriestrompreis als Hemmnis für die Dekarbonisierung. Es gibt jedoch nicht den einen Industriestrompreis – er variiert je nach Branche, Größe und Stromverbrauch. Im internationalen Vergleich spielt auch die Kaufkraft eine Rolle. Entscheidend für Investitionen ist, dass Strom langfristig günstiger ist als fossile Energien. Steigende CO2-Preise und der Ausbau erneuerbarer Energien tragen dazu bei. Instrumente wie Dierenzkontrakte oder der kürzlich von der EU-Kommission veröentlichte Clean Industrial Deal können eine schnelle Transformation unterstützen.
ne: Die Produktionsprozesse in der deutschen Schwerindustrie müssen sich ändern, um mit den globalen Veränderungen Schritt zu halten. Warum ist die Hebelwirkung für den Standort Deutschland so wichtig?
Senkpiel: Deutschland hat sich verpflichtet, bis 2045 klimaneutral zu werden – ohne die Dekarbonisierung der Industrie ist das nicht erreichbar. Eine Verlagerung der Produktion ins Ausland würde lediglich die Emissionen verlagern (Carbon Leakage). Die Transformation bietet aber auch Chancen: Durch Re- und Onshoring von Lieferketten sowie technologische Innovationen entstehen volkswirtschaftliche Vorteile, und Deutschland könnte seine Vorreiterrolle stärken. Die Krisen der letzten Jahre haben zudem gezeigt, wie wichtig Unabhängigkeit in geopolitisch unsicheren Zeiten sein kann.
Dr. Charlotte Senkpiel, Senior Wissenschaftlerin (Abteilung Energiesystemanalyse), Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE
Fraunhofer ISE zeigt Transformationsstrategien und Systemeffekte in der Industrie auf – alle Informationen unter www.ise.fraunhofer.de
Weiterführende Links
Webseite und Abschlussbericht Projekt IND-E
Zum Leitthema "Klimaneutrale Industrie" (ise.fraunhofer.de)